Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
niedergelassen.
Endlich hatte ich die Wahrsagerin gefunden, mit der für mich vor sechs Monaten ein gefährliches Spiel begann. Diese Frau besaß viele Gesichter. Für Nim war sie eine Freundin und die Frau des verstorbenen holländischen Konsuls. Sie konnte mir angeblich helfen, wenn ich in Schwierigkeiten geriet. Wenn man Therese glauben konnte, war sie in Algier bekannt und geachtet. Solarin hatte geschäftlich mit ihr zu tun, und Mordecai sah in ihr eine Verbündete. Aber wenn ich an El-Marads Worte dachte, dann war sie auch die Mochfi Mochtar in der Kasbah - und besaß angeblich die Figuren des Montglane-Schachspiels. Aber all ihre Rollen führten im Grunde nur zu dem einen:
„Sie sind die schwarze Dame“, sagte ich. Minnie Renselaas lächelte unergründlich. „Willkommen im Spiel“, erwiderte sie. „Das ist also die Bedeutung von Pique Dame!“ rief Lily und saß plötzlich kerzengerade.
„Sie ist eine Spielerin. Also kennt sie die Züge!“
„Ja“, stimmte ich ihr zu und ließ Minnie nicht aus den Augen, „sie ist die Wahrsagerin. Und dein Großvater hat es eingefädelt, daß ich ihr an Silvester begegnet bin. Und wenn ich mich nicht irre, weiß sie mehr über dieses Spiel als nur die Züge.“
„Sie irren sich nicht“, sagte Minnie und lächelte immer noch wie die Sphinx. Es war unglaublich, wie anders sie jedesmal aussah, wenn ich ihr begegnete. Mit der samtigen, faltenlosen Haut und in den silbrigschimmernden Gewändern auf dem dunkelgrünen Diwan wirkte sie sehr viel jünger als auf der Tanzfläche im Zelt - und nicht zu vergleichen mit der geschmacklos aufgemachten Wahrsagerin mit der Straßbrille oder der alten Frau, die Vögel vor dem Gebäude der UNO fütterte. Sie war wie ein Chamäleon, und ich fragte mich: Wer ist sie wirklich?
„Endlich sind Sie da“, sagte sie in ihrer weichen, kühlen Stimme. Sie sprach mit einem Akzent, den ich nicht einordnen konnte. „Ich habe sehr lange auf Sie gewartet. Aber jetzt können Sie mir helfen...“ Ich war mit meiner Geduld am Ende. „Ihnen helfen?“ fragte ich. „Hören Sie, Madame, ich habe Sie nicht darum gebeten, mich für dieses Spiel zu ‘wählen’. Jetzt werden Sie mir vermutlich ‘Großes und Unfaßbares kundtun, Dinge, die ich nicht weiß’. Aber ich habe bereits genug Mysteriöses und Verwirrendes erlebt. Man hat auf mich geschossen, die Geheimpolizei verfolgt mich, und ich habe erlebt, wie man zwei Menschen umgebracht hat.
Lily wird von der Polizei gesucht und soll in ein algerisches Gefängnis geworfen werden - und alles wegen dieses sogenannten Spiels.“ Ich geriet außer Atem, denn ich hatte immer lauter und erregter gesprochen. Carioca sprang schutzsuchend auf Minnies Schoß. Lily sah ihn empört an. „Ich sehe. Sie besitzen Temperament“, bemerkte Minnie ungerührt und streichelte Carioca. Der kleine Verräter schnurrte wie eine Angorakatze. „Aber beim Schach ist Geduld eine sehr viel wertvollere Eigenschaft. Ihre Freundin Lily wird es Ihnen bestätigen. Ich warte schon sehr lange und mit großer Geduld auf Sie. In New York habe ich mein Leben riskiert, nur um Sie zu sehen. Abgesehen von dieser Reise habe ich die Kasbah in den vergangenen zehn
Jahren nicht mehr verlassen - nicht mehr seit der algerischen Revolution. Ich sitze hier gewissermaßen in einem Gefängnis, aber Sie werden mich befreien.“
„Gefängnis!“ riefen Lily und ich wie aus einem Mund. „Ich finde, Sie haben ziemlich viel Bewegungsfreiheit“, sagte ich. „Wer hält Sie denn gefangen?“
„Nicht ‘wer’, sondern ‘was’„, erwiderte sie und schenkte uns Tee nach. „Vor zehn Jahren ist etwas geschehen, das ich nicht vorhersehen konnte. Dadurch verschob sich das empfindliche Gleichgewicht der Kräfte. Mein Mann starb, und die Revolution begann.“
„Die Algerier haben 1963 die Franzosen aus dem Land vertrieben“, erklärte ich Lily. „Es war ein echtes Blutbad.“ Zu Minnie gewandt sagte ich: „Als die Botschaften geschlossen wurden, saßen Sie in der Patsche. Aber die holländische Regierung hätte Sie doch bestimmt aus dem Land herausholen können. Warum sind Sie immer noch hier? Die Revolution liegt zehn Jahre zurück!" Minnie stellte ihre Teetasse heftig auf den Tisch. Sie schob Carioca beiseite und stand auf, „Ich bin gefesselt wie ein Bauer“, erklärte sie und ballte die Fäuste. „Was im Sommer 1963 geschehen ist, wurde durch den Tod meines Mannes und die Revolution nur
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