Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
verloren. Sie können überall sein - in Europa, im Fernen Osten, ja sogar in Amerika -, vielleicht wird man sie nie wieder finden. Ich habe mein ganzes Leben gebraucht, um die Figuren ausfindig zu machen, die ich heute besitze. Einige sind in sicheren Verstecken in anderen Ländern. Aber von den zwanzig befinden sich acht hier in der Wüste - im Tassili. Ihr müßt diese Figuren holen und mir bringen, ehe es zu spät ist.“
„Moment", unterbrach ich sie, „das Tassili-Massiv ist etwa eintausendsechshundert Kilometer von hier entfernt. Lily hält sich illegal in diesem Land auf, und ich habe beruflich eine Aufgabe übernommen, die mich unter größten Zeitdruck setzt. Hat das nicht Zeit bis -“
„Nichts ist dringlicher als das, worum ich euch bitte!“ rief Minnie. „Wenn ihr diese Figuren nicht holt, dann werden sie vermutlich in andere Hände fallen. Dann könnte aus der Erde eine Hölle werden, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigt. Begreift ihr nicht, welche logischen Schlußfolgerungen sich mit dieser Formel verbinden?“
Das fiel mir nicht schwer. Die Technik der Elementumwandlung hatte sich weiterentwickelt, zum Beispiel bei der Herstellung von Transuran, einem Element mit einer höheren Ordnungszahl als Uran.
„Sie meinen, mit dieser Formel kann jemand Plutonium gewinnen?“ fragte ich. Deshalb betonte Nim also immer wieder, Kernphysiker müßten in erster Linie Ethik studieren. Ich verstand Minnies Sorge.
„Ich werde einen Plan zeichnen, nach dem ihr die Figuren findet“, sagte Minnie, als sei es beschlossene Sache, daß wir in die Wüste fahren. „Lily, Sie werden sich die Skizze genau einprägen; ich werde sie dann wieder vernichten. Und Ihnen, Kat, gebe ich ein Dokument von größter Bedeutung und großem Wert.“ Sie reichte mir das verschnürte Buch. Während Minnie die Skizze zeichnete, kramte ich in meiner Tasche nach der Nagelschere, um die Schnur zu zerschneiden.
Es war ein kleines Buch - etwa wie ein dickes Taschenbuch - und dem Aussehen nach sehr alt. Der Saffianeinband war rissig und trug eingebrannte Zeichen wie vom Abdruck eines Siegelrings. Bei genauerem Betrachten sah ich, daß jeder Abdruck eine Acht war, und mich überlief ein Schauer. Ich durchtrennte die Schnur mit der Schere.
Es war ein handgebundenes Buch, das Papier transparent wie Zwiebelhaut, aber so glatt und geschmeidig wie Stoff und sehr dünn. Das Buch hatte mehr Seiten, als ich zunächst dachte - etwa sechs- oder siebenhundert -, und alle waren von Hand beschrieben.
Es war eine kleine, engstehende, verschnörkelte Schrift, und das dünne Papier war beidseitig beschrieben. Die Tinte hatte sich durchgedruckt, wodurch das Entziffern doppelt mühsam wurde. Aber ich begann sofort, darin zu lesen. Das alte Französisch hatte Worte, die ich nicht alle kannte, aber ich verstand doch den Sinn.
Minnie unterhielt sich leise mit Lily, während ich las. Sie besprach mit ihr eingehend die Skizze. Mir wurde plötzlich ganz kalt. Jetzt verstand ich, woher Minnie all das wußte, was sie uns erzählt hatte.
Ich las den Text laut vor und begann ihn zu übersetzen. Lily hob den Kopf und begriff langsam, was ich da las. Minnie hörte schweigend zu und schien wieder in Trance zu versinken. Sie schien eine Stimme aus der Wüste zu hören, aus den dunklen Nebeln der Vergangenheit - eine Stimme, die das Jahrtausend umfaßte. Ja, der Text dieses Dokuments erzählte mehr als nur eine Geschichte aus dem achtzehnten Jahrhundert ...
„Im Jahr 1793“, las ich,
im Monat Juni in Tassili n-Adjer in der Sahara beginne ich, diese Geschichte zu erzählen. Ich heiße Mireille, und ich komme aus Frankreich. Nachdem ich acht Jahre meiner Jugend in den Pyrenäen im Kloster von Montglane verbracht hatte, wurde ich Zeugin eines großen Unheils, das auf die Welt losgelassen wurde - ein Unheil, das ich jetzt anfange zu verstehen. Ich werde seine Geschichte niederschreiben. Man nennt es das Montglane-Schachspiel, und es begann mit Karl dem Großen, dem mächtigen König, der unser Kloster erbaut hat...
Als Lilys Corniche vom Erg hinunter zur Oase Ghardaia brauste, sah ich in allen Richtungen endlose Kilometer dunkelroten Sand vor uns liegen.
Auf einer Karte ist Algeriens Geographie sehr einfach. Man denkt dabei an einen nach vorne geneigten Krug. Die Tülle befindet sich unterhalb der marokkanischen Grenze, und es sieht so aus, als ergieße sich daraus Wasser in die Nachbarländer der westlichen Sahara und Mauretanien. Der Henkel ist aus zwei Stücken
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