Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
herum, um so die Droschke auf der schmalen Straße zu wenden. Mireille stürzte sich mit klopfendem Herzen in die Menge.
Valentine konnte sie in dem Getümmel nicht mehr sehen. Sie kämpfte sich verzweifelt durch die dicht an dicht stehenden Leiber und spürte, wie von allen Seiten Händen an ihr zerrten und zogen. Panik erfaßte sie, als die ungewaschenen und verwahrlosten Menschen sie immer enger umschlossen.
Im Gewühl der Beine, Arme und Waffen sah sie plötzlich einen Augenblick lang Valentine dicht vor Schwester Claude. Sie streckte die Hand nach der Nonne aus. Doch da schloß sich die Mauer der Menschen wieder vor ihr.
„Valentine!“ schrie Mireille. Aber ihre Stimme ging im allgemeinen Gebrüll unter, und sie wurde zusammen mit den anderen gegen das halbe Dutzend Droschken geschoben, die vor dem Gefängnistor eingekeilt waren und in denen die verhafteten Priester saßen.
Mireille versuchte verzweifelt, in die Richtung von Valentine und Schwester Claude zu gelangen, aber es war, als kämpfe sie gegen eine Sturmflut, die sie unerbittlich gegen die Kutschen vor den Gefängnismauern trieb, bis sie schließlich gegen ein Wagenrad prallte. Sie klammerte sich mit all ihrer Kraft daran fest und richtete sich langsam mit dem Rücken zur Droschke auf, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Im Strudel der Arme und Beine um sie herum konnte sie dem Sog nur standhalten, indem sie entschlossen das Wagenrad umklammerte.
Die Priester wurden aus dem Wagen und auf die Straße gezerrt. Ein leichenblasser junger Priester sah Mireille eine Sekunde lang mit weit aufgerissenen Augen an, dann verschwand er in der Menge, ihm folgte ein älterer Geistlicher. Er sprang aus der offenen Tür und hieb mit einem Gehstock auf die Menge ein. Dabei schrie er verzweifelt nach den Wachen, aber diese hatten sich inzwischen ebenfalls in brutale Bestien verwandelt. Sie schlugen sich auf die Seite der Menge, sprangen vom Wagendach, packten den armen Priester an seiner Soutane und rissen sie in Fetzen. Der Mann fiel zu Boden und wurde auf den Pflastersteinen zu Tode getrampelt.
Einen Priester nach dem anderen zerrte der Mob aus den Wagen. Sie liefen wie aufgeschreckte Mäuse durcheinander, während man von allen Seiten mit Schaufeln und Hacken auf sie einschlug. Beinahe wahnsinnig vor Angst schrie Mireille immer wieder: „Valentine!“, während um sie herum das Grauen tobte. Plötzlich wurde sie wieder in die Menschenmenge gezerrt und dann brutal gegen die Gefängnismauer gedrückt.
Sie prallte gegen die Steine und fiel auf das Pflaster. Sie streckte schützend die Hand vor und spürte beim Aufschlagen etwas Warmes und Weiches. Bäuchlings auf dem Boden liegend, hob sie benommen den Kopf und strich sich die roten Haare aus dem Gesicht. Vor sich sah sie die geweiteten Augen von Schwester Claude, die zerschmettert am Fuß der Gefängnismauer lag. Aus einer klaffenden Wunde an der Stirn lief Blut über das Gesicht der alten Frau. Man hatte ihr die Haube vom Kopf gerissen. Die Augen starrten ins Leere. Mireille zuckte zurück und schrie, so laut sie konnte, aber ihrer Kehle entrang sich kein Laut. Die warme, feuchte Stelle, auf der ihre Hand gelegen hatte, war ein großes blutiges Loch, denn man hatte Schwester Claude den Arm aus dem Leib gerissen.
Zitternd vor Entsetzen kroch Mireille rückwärts, weg von der verstümmelten Schwester, und wischte sich fieberhaft die blutige Hand an ihrem Kleid ab. Valentine! Wo war Valentine? Mireille richtete den Oberkörper auf und wollte sich an der Mauer hochziehen, als sie plötzlich ein Stöhnen hörte und begriff, daß Claude den Mund geöffnet hatte. Die Nonne war nicht tot!
Mireille beugte sich über sie und packte Claude bei den Schultern. Das Blut schoß aus der klaffenden Wunde.
„Valentine!“ schrie Mireille. „Wo ist Valentine? Was ist aus Valentine geworden?“
Die alte Nonne bewegte tonlos die bleichen Lippen und verdrehte die Augen. Mireille beugte sich über sie, bis ihre Haare die Lippen der Nonne berührten.
„Drinnen“, flüsterte Claude, „man hat sie hinein geschleppt.“ Dann sank sie bewußtlos zusammen.
„Mein Gott, ist das wahr?!“ stöhnte Mireille, aber Claude antwortete nicht mehr.
Mireille versuchte aufzustehen. Die Menge um sie herum schrie nach Blut. Überall sausten Hacken und Stöcke durch die Luft. Das Geschrei der Tötenden und der Sterbenden verschmolz miteinander, und Mireille wurde beinahe schwarz vor Augen.
Erschöpft und von Schmerz und Verzweiflung übermannt,
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