Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
schmale Lücke und zog. Das schwere Holz ruckte ein Stückchen auf sie zu und machte dabei ein ohrenbetäubendes Kratzgeräusch. Sekundenlang verharrte sie reglos und lauschte angsterfüllt. Nicht, dass jetzt noch, so kurz bevor sie es geschafft hatte, die falsche Person den Lärm hörte! Alles blieb still. Sie zog erneut und versuchte dabei, die Tür ein wenig anzuheben. Diesmal war das Kratzen weitaus leiser. Die Tür rutschte fast zwanzig Zentimeter weit in den Raum hinein. Weit genug, um hindurch zu schlüpfen.
Katrin zwängte sich durch den Spalt. Auf der anderen Seite blickte sie sich suchend um. Sie konnte jedoch kaum etwas erkennen. Es war fast stockdunkel. Offensichtlich stand sie in einer Art Gang. Behutsam tastete sie sich Schritt für Schritt vorwärts. Plötzlich stießen ihre Füße gegen etwas Hartes. Als sie vorsichtig mit den Fingern den Boden befühlte, stellte sie fest, dass es eine Treppe war. Stufe für Stufe stieg sie hinauf. Oben war eine Tür. Katrins Herz setzte aus. Nicht schon wieder! Sie tastete nach der Klinke und drückte sie hinunter. Die Tür schwang auf. Sie war frei.
Überglücklich betrat sie eine kleine Diele. Das Tageslicht blendete sie so sehr, dass sie zunächst nicht viel von ihrer Umgebung erkennen konnte. Sie blinzelte. Mit halb geschlossenen Lidern nahm sie schemenhaft eine Garderobe, einen Schirmständer und einen mannshohen Spiegel wahr. Sie befand sich offensichtlich in einem gewöhnlichen Einfamilienhaus. Da war noch etwas. Ein Geräusch! Schritte? Oder doch nur das Pochen ihres eigenen Herzens?
Sie versuchte, sich zu orientieren. Irgendwo musste die Haustür sein. Wenn es doch nur nicht so hell wäre! Der Spiegel. Da war etwas Dunkles. Ein Schatten. Eine Bewegung. Als sie begriff, dass es ein Mann war, war es bereits zu spät. Er stürzte sich von hinten auf sie und riss sie zu Boden. Hände umfassten ihren Hinterkopf und pressten ihr Gesicht in den Teppich. Sie schnappte nach Luft und atmete Flusen ein, glaubte, ersticken zu müssen.
Dann spürte sie einen plötzlichen, stechenden Schmerz an der rechten Schläfe und alles wurde dunkel.
***
Auf der Fahrt zum Präsidium sprachen sie kein einziges Wort. Maiwald saß neben dem Kommissar auf dem Beifahrersitz und starrte ins Leere. Halverstett ging in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durch, ein Gespräch mit dem Mann anzufangen, verwarf jedoch jede einzelne sofort wieder. Der feste Rahmen einer Vernehmung im Präsidium war genau das, was beide Männer brauchten. Und das wussten sie.
Rita Schmitt sprang von ihrem Stuhl hoch, als ihr Kollege mit Helmut Maiwald im Schlepptau das gemeinsame Büro betrat.
»Wo hast du gesteckt? Findest du nicht, du solltest Bescheid sagen? Hier geht alles drunter und drüber.«
Halverstett machte eine beschwichtigende Handbewegung und deutete diskret auf den Mann, der mit ihm hereingekommen war. Dann bat er sie: »Bitte lass alles andere stehen und liegen. Ich möchte, dass du dabei bist, wenn ich mit Herrn Maiwald rede.«
Rita blickte irritiert zu Maiwald und dann wieder auf ihren Kollegen, aber Halverstetts eindringlicher Blick warnte sie davor, die schnippische Bemerkung zu machen, die ihr auf der Zunge lag.
Halverstett bot dem Gast einen Platz an und kramte das Aufzeichnungsgerät aus einem Fach unter seinem Schreibtisch hervor. Er vergewisserte sich, dass ein frisches Band darin war, und stellte es auf. Dann sah er zu Maiwald. »Es ist Ihnen doch recht, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?«
Der Mann nickte. Rita Schmitt ließ sich seine Jacke geben und hängte sie an die Garderobe hinter der Tür. Sie hatte das Gefühl, sich in einem Puppenspiel zu befinden, indem alle Figuren wussten, wann sie welche Bewegung zu machen hatten, aber den Sinn des Theaters oder ihrer Rolle darin nicht begriffen. Allerdings hatte sie den Verdacht, dass sie bei dieser Aufführung die Einzige war, die nicht einmal wusste, welches Stück überhaupt gespielt wurde. Halverstett und Maiwald schienen ihre Rollen im Schlaf zu kennen. Sie blickte zum wiederholten Mal von einem zum anderen. Was ging hier vor? Welches Wissen verband diese Männer? Sie steckten bis zum Hals in einer Mordermittlung, bei der sie nicht richtig vorankamen. Sie hatten zwei Verdächtige, die beide spurlos verschwunden waren, und die Presse saß ihnen im Nacken. Von Staatsanwalt Fischer ganz zu schweigen. Der hatte heute Morgen schon mehrfach angerufen.
Was wollte ihr Kollege ausgerechnet jetzt von dem Vater eines der
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