Katrin Sandmann 04 - Blutsonne
Plötzlich kam Bewegung in die weiße Wand, so als zöge jemand an einem Vorhang. Das ganze Gerüst kam zum Vorschein. Zwei X-förmige Stützen, ein Querbalken, zwei Schaukeln. Der Querbalken stand an beiden Seiten ein wenig über. Katrin hielt die Luft an. Auf der linken Seite baumelte etwas in der Morgenbrise, das auf den ersten Blick aussah wie eine dritte Schaukel.
Zögernd ging sie näher heran. Ihr Herz hämmerte, und ihre Beine waren bleischwer. Wieder glitt ein Nebelschleier vor das Gerüst, das hängende Etwas verschwand. Katrin stand jetzt unter einer Platane, nur wenige Meter von der Schaukel entfernt. Sie legte ihre Hand auf den feuchten Baumstamm und starrte konzentriert geradeaus. Langsam lichtete sich der Nebel wieder, gab zwei Beine frei, dann einen Oberkörper und zum Schluss einen Kopf. Am Querbalken des Schaukelgerüsts hing ein Mann, aufgeknüpft mit einem dicken Seil, die Hände auf dem Rücken und die Fußgelenke mit einer dünnen Schnur aneinandergefesselt. Es war klar, dass der Mann nicht mehr zu retten war. Sein Gesicht war weißer als der Nebel, die Zungenspitze hing starr im rechten Mundwinkel, und die Augen quollen aus den Höhlen und blickten ausdruckslos ins Nichts.
Katrin starrte ihn an, unfähig, sich zu rühren. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre linke Hand krallte sich hilflos in den Baumstamm. Wie in Zeitlupe öffnete sie den Mund, doch ihr Schrei war stumm. Ihr Magen protestierte. Er wölbte und wand sich und drückte Säure in die Speiseröhre. Katrin keuchte, wandte sich ab und taumelte zurück zur Straße. Würgend blieb sie am Bordstein stehen. Bis auf ein wenig Schleim kam jedoch nichts. Ein Wagen rollte vorbei. Wenn der Fahrer bemerkt hatte, was mit ihr los war, so schien es ihn nicht zu interessieren, denn er verschwand in der Uhlandstraße, ohne anzuhalten.
Eine Reihe niedriger Holzpflöcke markierte den Zugang zum Schillerplatz. Vorsichtig ließ Katrin sich auf einem von ihnen nieder. Mit steifen, kraftlosen Fingern tastete sie in ihrer Jacke nach ihrem Handy. Nichts. Auch das noch! Sicherlich lag es in ihrer Handtasche, die sie heute Morgen absichtlich zu Hause gelassen hatte, um nicht so viele Einzelteile zum Auto schleppen zu müssen. Ratlos sah sie sich um. Sollte sie einfach irgendwo klingeln? Auf die nächste Straßenbahn warten und den Fahrer alarmieren? Am anderen Ende des Schillerplatzes lag die Herderstraße. Da war ein wenig mehr los, einzelne Autos glitten vorbei. Entschlossen stand Katrin auf und marschierte auf die Straße zu, den Blick starr auf den Boden gerichtet, um nicht erneut auf das Schaukelgerüst blicken zu müssen.
Der erste Wagen umrundete sie mit quietschenden Reifen und lautem Gehupe, als sie auf die Straße sprang und wild mit den Armen wedelte. Auch der zweite fuhr vorbei. Der Fahrer machte sich sogar noch die Mühe, das Fenster herunterzulassen und Katrin einen Vogel zu zeigen. Schließlich hielt ein rostiger, dunkelblauer Passat. Ein älterer Mann stieg aus und fragte in gebrochenem Deutsch, ob er helfen könne. Katrin musste dreimal ansetzen, bis sie ein verständliches Wort über die Lippen brachte.
6
Es dauerte sieben Minuten, bis der erste Streifenwagen vor Ort war. Danach trafen nach und nach immer mehr Fahrzeuge ein. Der Schillerplatz wurde gesperrt, die Feuerwehr leuchtete mit großen Scheinwerfern das Gelände aus, damit die Spurensicherung im Dämmerlicht nichts übersah. Der Notarzt konnte für den Mann, der an dem Schaukelgerüst hing, nichts mehr tun, doch er kümmerte sich um Katrin, wickelte sie in eine Decke und gab ihr etwas zur Beruhigung. Apathisch saß sie in einem Streifenwagen und beobachtete das Durcheinander um sie herum. Inzwischen hatte sich der Nebel so weit gelichtet, dass sie den gesamten vorderen Teil des Platzes gut überblicken konnte.
Nach etwa zwanzig Minuten traf die Gerichtsmedizinerin am Tatort ein, und noch mal zehn Minuten später sah Katrin Hauptkommissar Halverstett auf den Schillerplatz zugehen. Er sah sich den Toten an und sprach lange mit der Ärztin. Katrin beobachtete die beiden. Etwas an ihrer Haltung, an der Art, wie sie sich ansahen, war seltsam. Unpassend. Wären die Umstände nicht eindeutig gewesen, hätte Katrin nie vermutet, dass sich hier zwei Kollegen über die Todesart und den Todeszeitpunkt eines Mordopfers austauschten. Ihre Körper sprachen eine ganz andere Sprache. So, als teilten die beiden ein Geheimnis. Ein sehr privates Geheimnis.
Mit einem Mal fiel Katrin
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