Katrin Sandmann 04 - Blutsonne
rübergefahren in die schicke Villa meiner Noch-Schwiegereltern und hätte mir Jule geschnappt. Ich möchte nicht wissen, was sie der Armen alles über mich erzählen. Was die da mit ihr machen, ist doch Gehirnwäsche. Klar, dass die mich nicht sehen will.« Benedikt lief unruhig im Zimmer hin und her. »Und das Schlimmste ist, dass sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Dass sie die gemeinsten Lügen über jemanden verbreiten dürfen, sein Leben zerstören dürfen, ohne dass es irgendwelche Konsequenzen hat.«
*
Als der Wecker klingelte, hatte Katrin das Gefühl, es sei noch mitten in der Nacht. Es war stockdunkel draußen, kein Geräusch war zu hören, nur das Rauschen einer Wasserleitung irgendwo im Haus. Schlaftrunken rollte sie sich aus dem Bett. Manfred stöhnte leise und drehte sich geräuschvoll auf die andere Seite.
Katrin lief zum Fenster. Beinahe hoffte sie, der Nebel möge sich verzogen haben. Dann könnte sie ruhigen Gewissens zurück ins Bett schlüpfen. Doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Die kompakte weiße Masse füllte den Hof hinter ihrem Haus wie ein riesiger Bausch Zuckerwatte. Sie gähnte und wandte sich ab. Ohne das Licht anzumachen, tastete sie im Schrank nach frischer Kleidung. Sie fischte eine warme Hose heraus, einen dicken Pullover und die langen, karierten Kniestrümpfe, die sie so liebte und die Manfred so hässlich fand. Unter der Dusche wurde sie langsam wach.
Als sie sich in der Küche Tee kochte und ein Brot schmierte, stieg langsam die Vorfreude in ihr auf. Wann hatte sie das zum letzten Mal gemacht? Im Morgengrauen aufstehen und an einem besonderen Ort den Sonnenaufgang festhalten? Früher war das eine ihrer Leidenschaften gewesen. Einer der Gründe, warum sie ihren Beruf so liebte. Die Welt entdecken, während sie gerade aufwachte, wenn der Tag noch jung war und blinzelnd die Augen öffnete.
Katrin goss den Tee in eine kleine Thermoskanne und packte das Brot in Alufolie. Jetzt hatte sie noch keinen Hunger, doch in einer Stunde würde sie darüber herfallen. Sie schlüpfte in ihre Turnschuhe, nahm die Jacke vom Haken, schnappte sich ihre Kameratasche und das Stativ und verließ die Wohnung. Fünf Minuten später fuhr sie in Manfreds grünem Landrover den Hennekamp entlang. Hier war schon einiges los auf der Straße, die erste Welle des Berufsverkehrs hatte eingesetzt. Katrin schwamm ziellos mit den anderen Wagen Richtung Nordosten. Sie hatte sich vorher gar nicht überlegt, wo sie fotografieren wollte. Also ließ sie sich einfach treiben.
Als sie sich der Grafenberger Allee näherte, fiel ihr das Gespräch vom Abend zuvor wieder ein. Die Richtplätze. Einer spontanen Eingebung folgend bog sie links ab und dann an der übernächsten Querstraße wieder rechts in die Humboldtstraße. Vielleicht war ein ehemaliger Richtplatz im Morgennebel ja ein schönes Motiv für Simons’ Buch.
Katrin ließ den Wagen langsam durch die enge Straße rollen. Hier schien noch fast alles zu schlafen. Die eleganten, mehrstöckigen Wohnhäuser lagen still und dunkel hinter dem Nebelschleier, der sich zögernd lichtete. Nur gelegentlich war durch den weißen Dunst das gelbliche Licht eines erleuchteten Fensters zu erahnen.
Katrin fand kurz vor dem Schillerplatz eine Parklücke. Ohne Kamera stieg sie aus und schlenderte auf den Platz zu. Erst einmal musste sie die Gegend erkunden, die beste Perspektive ausmachen, das schönste Motiv finden. Im Augenblick war es sowieso noch zu dunkel, um zu fotografieren.
Der Schillerplatz war ein mit großen, alten Bäumen bestandenes, rechteckiges Gelände, auf dem sich mehrere Rasenstücke und ein Kinderspielplatz befanden. Die Spielgeräte waren über den ganzen Platz verstreut. Katrin blieb in einiger Entfernung stehen und betrachtete die Bäume, die ihre nackten Arme aus dem Nebel heraus in den grauen Morgenhimmel streckten, und musste an den Erlkönig denken. Schaudernd trat sie näher. Bei dem Wetter war es nicht schwer, sich vorzustellen, dass an diesem Ort einmal ein Galgen gestanden hatte.
Katrin schlenderte entlang der Schienen der Straßenbahnlinie 708, die hier von der Uhlandstraße in die Humboldtstraße mündeten. Ein einsames hölzernes Schaukelgerüst reckte wie ein Ertrinkender seine Balken aus der milchigen Suppe. Irgendjemand hatte die rechte Schaukel so oft um den oberen Querbalken gewickelt, dass sie für ein kleines Kind nicht mehr zu erreichen war. Die linke Schaukel war nicht zu sehen, Nebelschwaden hüllten sie ein.
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