Katrin Sandmann 04 - Blutsonne
»Vielleicht solltest du den wirklich nachsehen lassen. Womöglich ist er gebrochen.«
»Quatsch, der ist nicht gebrochen. Aber wenn es dich beruhigt, humpel ich mal da rüber.« Er deutete auf den Rettungswagen.
»Warte, ich helfe dir.« Katrin machte Anstalten, die Wagentür zu öffnen.
»Nein, bleib sitzen und ruh dich aus. Ich schaffe das schon.«
Manfred wand sich aus dem Auto und verschwand, Katrin blieb allein zurück und starrte auf das Durcheinander vor der Windschutzscheibe. Das Feuer war offenbar gelöscht, die Feuerwehrmänner rollten die Schläuche ein. Ein paar Gestalten in weißen Anzügen verschwanden im Haus, die Spurensicherung machte sich an die Arbeit. Neugierig beobachteten die Menschen das Geschehen, drängten sich an die Absperrung oder starrten aus den geöffneten Fenstern der Nachbarhäuser.
Katrins Handy klingelte. Es dauerte einen Augenblick, bis sie es aus der Jackentasche gefischt hatte.
»Ja? Hallo?«
»Ich hätte dir den Hals umdrehen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«
*
Sekundenlang war Katrin wie gelähmt. Sie presste das Telefon ans Ohr, unfähig, etwas zu sagen oder zu tun.
»Hat es dir die Sprache verschlagen, du kleines Miststück?«
Allmählich setzte ihr Verstand ein, auch wenn ihr die Worte unbeholfen über die Lippen kamen. »Benedikt! Wo stecken Sie?« Während sie sprach, blickte sie aus dem Wagen, suchte fieberhaft ein bekanntes Gesicht. Rita Schmitt stand etwa zehn Meter von ihr entfernt und sprach mit einem Mann von der Feuerwehr. Doch sie sah nicht in ihre Richtung.
Benedikt lachte höhnisch. »Das wüsstest du wohl gern. Aber du bist doch so clever, vielleicht findest du es ja heraus.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich es herausfinden könnte?«
Wieder lachte er. Katrin hielt das Gerät von ihrem Kopf weg. Sein Lachen war furchtbarer als seine Worte. Es hatte etwas unbeschreiblich Grausames, Unmenschliches. Sie sah Jule vor sich, wie sie ohnmächtig an dem Holzverschlag gehangen hatte, hilflos den Flammen ausgeliefert. Er war ihr Vater. Wie hatte er das tun können?
»Du hast doch auch die Hexen gefunden.«
Katrin schluckte. Beinahe hätte sie das Handy fallen lassen. »Was?«, flüsterte sie ungläubig.
»Du hast die Hexen gefunden, Miststück, und jetzt, jetzt musst du mich finden. Sonst ist es nie vorbei.«
»Woher wissen Sie …?« Die Worte kamen automatisch, obwohl sie die Antwort kannte. Er war hier gewesen. Er hatte beobachtet, wie sie und Manfred das Haus gefunden hatten. Vielleicht war er immer noch in der Nähe. Angstvoll sah sie sich um, so als könne er jeden Moment neben dem Wagen auftauchen. Doch in dem Wirrwarr von Polizisten, Feuerwehrleuten und Schaulustigen konnte sie nichts Verdächtiges erkennen. Wieder blickte sie zu Rita Schmitt, winkte ihr zu, doch die Frau sah auf einen Zettel, den der Feuerwehrmann ihr gereicht hatte.
»Also, beweis mir, was du drauf hast, Engelchen. Du hast genau eine Stunde.« Die Verbindung wurde unterbrochen.
Katrin nahm benommen das Handy vom Ohr, starrte fassungslos nach draußen, ohne wirklich etwas zu sehen. Warum tat er das? Was wollte er von ihr? Aus der Menschenmenge löste sich eine Gestalt, ein Feuerwehrmann, der noch Schutzkleidung und Helm trug. Sein Gesicht war hinter der Schutzbrille nicht zu erkennen. Zielstrebig marschierte er auf den Wagen zu, in dem Katrin saß. Panik flutete durch ihren Körper. Das musste er sein! Sie wollte schreien, aber kein Laut drang aus ihrem Mund. Sie wollte die Tür aufstoßen, wegrennen, doch sie saß starr auf der Rückbank des Wagens, als hätte sie jemand dort festgeklebt. Schon hundert Mal hatte sie solche Szenen im Film gesehen, sich geärgert, weil sie es unglaubwürdig fand, wenn die Opfer sich nicht wehrten, sondern alles hilflos mit sich geschehen ließen. Und jetzt sah auch sie ihrem eigenen Untergang entgegen, als wäre er ohnehin nicht mehr zu verhindern.
Kurz vor dem Wagen blieb der Mann stehen und zog den Helm vom Kopf. Jetzt endlich schrie Katrin und hämmerte gegen das Wagenfenster, weil sie in ihrer Angst den Türgriff nicht fand, und sie hörte auch nicht auf, als sich ein schokoladenbraunes Gesicht und lange dunkle Locken aus dem Kopfschutz herauspellten.
Zusammen mit Rita Schmitt, die den Schrei ebenfalls gehört hatte, stürzte der Feuerwehrmann auf den Wagen zu. Es dauerte fünf volle Minuten, bis Katrin halbwegs verständlich erzählen konnte, was soeben geschehen war.
»Er hat gesagt, Sie müssten ihn finden?«
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