KATZ oder Lügen haben schlanke Beine (German Edition)
Vanessa mir ihre weltbewegenden Neuigkeiten ausgerechnet jetzt mitteilen musste, immerhin war es schon spät am Abend. Gerade wollte ich das Handy wieder in die Hosentasche stecken, als urplötzlich ein markerschütterndes Blöken durch die Luft gellte. Genau, wie wir es heute Nachmittag schon einmal gehört hatten und, genau wie am Nachmittag, ging es in die nervtötende Abfolge von schrillen Aufschreien, ungleichmäßigem Lallen und schließlich stumpfsinnigem Grunzen über.
Sonia und ich sahen uns erschrocken an. Für einen Augenblick waren wir wie erstarrt, dann hasteten wir auf das erleuchtete Fenster zu. Sonia geriet ins Straucheln und krallte ihre Finger in meinen Oberarm. Für eine Frau hatte sie einen erstaunlich kräftigen Griff.
Wir erreichten das Fenster und sahen in die gute Stube mit Kachelofen, Essecke und Herrgottswinkel, in der wir uns vor ein paar Stunden so lauschig mit Agnes Bunzenbichler unterhalten hatten. Es war niemand im Zimmer. Auf dem Tisch lagen Lesebrille und Strickzeug. Die Bunzenbichlerin strickte anscheinend an einem Schal mit rot-grün-rotem Rautenmuster. Neben dem Strickzeug stand eine Packung mit Glasampullen, die offensichtlich hastig aufgerissen worden war. Vereinzelt lagen ein paar Ampullen auf der Tischplatte. Die Tür zum Flur stand offen. Die Geräusche schienen von daher oder von einem Raum auf der anderen Seite des Hauses zu kommen.
Vorsichtig gingen wir weiter nach links, bogen um die nächste Ecke, schlitterten über den schmierigen Boden an der Rückseite des Gebäudes entlang, tasteten uns wieder um eine Ecke und hatten jetzt die andere Längsseite des Bauernhofs vor uns. Auch hier gab es eine Reihe von Fenstern im Erdgeschoss, vier davon stockdunkel. Durch das fünfte und letzte schimmerte bläulich-kaltes Licht nach draußen. Behutsam schlichen wir weiter. Sonia klammerte sich immer noch an meinen Arm. Das würde blaue Flecken geben, mein lieber Mann!
Endlich waren wir am Fenster. Es war »auf kipp« gestellt. Durch die handbreite Öffnung drangen abwechselnd tiefes Grunzen und jammerndes Seufzen nach draußen. Gespenstisch.
Wir spähten durch die Scheibe. Auf einem Kinderstuhl – vergittert und von grotesker Dimension, als wäre er das Requisit für einen beängstigenden Märchenfilm – saß eine Frau. Sie konnte zwanzig sein oder auch dreißig. Es war unmöglich zu schätzen. Ihre schwarzen Locken standen in einzelnen Büscheln auf dem Kopf. Durch die Lücken schimmerte eine gelblich schuppige Kopfhaut. Aus ihrem halb geöffneten Mund liefen unablässig glitzernde Speichelfäden auf die rot-grün-rot gemusterte Strickjacke, deren rechter Ärmel bis zur Schulter hochgekrempelt war. Die Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen nach oben verdreht, sodass man nur das leuchtende Weiß der Augäpfel sah. Arme und Schultern wurden von heftigen Krämpfen geschüttelt. Neben ihr stand Agnes Bunzenbichler, hielt ihren nackten Arm fest umklammert und zog eine Spritze heraus, die sie ihr anscheinend gerade verabreicht hatte. Langsam ließ sie die leere Kanüle in die Tasche ihrer Kittelschürze gleiten. Gleichzeitig löste sie ihren Griff und strich der jungen Frau mit der Hand über den Kopf. So, wie man ein Tier beruhigt, dessen Zuneigung man sich nicht ganz sicher ist.
Das Medikament schien schnell zu wirken, die Zuckungen liefen langsam aus wie Wellen an einem flachen Strand, das Seufzen und Grunzen hörte auf. Plötzlich drehten sich auch die Pupillen wieder in ihre normale Lage zurück und gaben den Augen Ausdruck – kalt, teilnahmslos und feindselig.
Agnes Bunzenbichler klebte der jungen Frau ein Pflaster auf die Einstichstelle am Oberarm und krempelte den Ärmel wieder herunter. Das alles tat sie mit der müden, desillusionierten Routine eines Menschen, der sich über nichts mehr wunderte, nichts mehr erhoffte, an nichts mehr verzweifelte. Ein letzter Blick, in dem weder Vorwurf noch Fürsorge lag, dann drehte sie sich abrupt um, löschte das Licht und verließ den Raum. Jetzt war es still. Oder doch fast. Nur noch ein kaum hörbares Wimmern kam aus der engen Finsternis des Raums zu uns nach draußen und verlor sich in der Dunkelheit.
Sonia und ich schlichen zum Auto zurück, vorbei am Hund, der freundlich mit dem Schwanz wedelte.
Die Rückfahrt nach Rosenheim verlief einsilbig. Auf der ersten Hälfte der Strecke sogar nullsilbig. Jeder von uns beiden sortierte seine Gedanken, hängte sie sorgfältig über einen Bügel und strich sie noch mal glatt, bevor
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