Katzendaemmerung
die Wahrheit tötet sie erst recht.‹ … Verstehst du, was er damit meint? Oft ist es besser, wenn manche Dinge einfach ungesagt bleiben. Auch unter Liebenden.«
»Hör auf!«, schrie ich sie an. »Ich kann es nicht mehr ertragen. Hier unten liegen Tote, schrecklich entstellte Leichen, und du redest von nichts anderem als Liebe. Mein Gott, du hast gemordet! Immer wieder gemordet. Glaubst du, man kann solche Dinge einfach verschweigen?«
Sie zuckte nur leicht mit den Schultern. »Warum nicht? Erinnerst du dich an die Zeit, als du mich noch Tascha nanntest? Warst du da etwa nicht glücklich? Es ging solange gut, bis du hinter mein kleines Geheimnis kamst. Nun … zumindest hinter einen Teil davon. Zuviel Wissen schadet eben. Und jetzt ist es nicht anders. Wir zwei hatten uns doch wieder ganz gut arrangiert, oder etwa nicht? … Wenn nur deine ewige Neugier nicht wäre …«
Für eine ganze Weile blickten wir uns nur stumm in die Augen.
Wer ist nur diese Frau dort oben?, fragte ich mich plötzlich. Du kennst ihr Äußeres, doch was zählt schon eine schöne Verpackung. Bastet hat sich diesen Körper doch einfach nur geliehen. – Nein, sie nahm ihn sich mit Gewalt. – Dieses Ding, das du ›Mia‹ nennst, ist nichts weiter als ein hübsches gestohlenes Kleid. Aber was steckt darunter? Ich musste mir eingestehen, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte.
Wie zur Bestätigung vollzog sich von einem Moment auf den anderen eine beunruhigende Wandlung in Mias Gesicht. Ihre großen sanften Augen verengten sich übergangslos zu schmalen Schlitzen, das betrübte Lächeln wich einem hämischen Grinsen. Alles an ihr verzerrte sich zur Fratze eines weiblichen Gargoyles.
»Findest du nicht, du übertreibst deine Rolle ein wenig?«, fragte mich das fremde Geschöpf. Selbst seine Stimme war nun rauer und tiefer geworden.
Ich wollte zurückweichen, doch das enge Quadrat des Schachtes hielt mich fest. »Meine Rolle? Ich verstehe nicht ganz, was du damit meinst.«
Der Gargoyle stieß ein widerlich rasselndes Gelächter aus. »Du bist gut, weißt du das? Beinahe so gut, wie ich. Der Ausdruck des Entsetzens auf deinem Gesicht … erstklassig, das muss ich dir lassen. Allerhöchste Schauspielkunst.«
»Schauspiel?« Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. »Du … DU wagst es? … Wie sollte ich nicht maßloses Entsetzen empfinden angesichts der Gräuel, die du angerichtet hast? Du bist eine Bestie … ein widernatürliches Monstrum!«
Die grinsenden Lippen pressten sich zu einem Strich zusammen. »Eine Bestie also? Ein Monstrum, ja? Was bist du nur für ein elender Heuchler. Ich bin dein einziges Publikum; für wen also spielst du hier den Unwissenden? Etwa nur für dich selbst? Du kanntest die Natur meines Wesens, oder willst du das etwa bestreiten? Du wusstest viel mehr, als gut für dich war. Du hättest nur eins und eins zusammenzählen müssen, aber das lag gar nicht in deinem Sinn, nicht wahr? Es lebt sich doch wesentlich angenehmer, wenn man vor manchen Dingen einfach die Augen verschließt. Spätestens als du das Tagebuch entdecktest, glaubte ich, du würdest nun endlich alles begreifen, alles akzeptieren. Aber ich habe mich getäuscht. Du bist halt doch nur ein schwacher, wankelmütiger Mensch, so, wie alle anderen auch … Es übersteigt einfach deinen Horizont, dass es Mächte gibt, die jenseits jeglicher Moralität regieren.«
Nur mühsam erfasste ich den Inhalt ihrer Worte. »Das Tagebuch?«, rief ich erstaunt. »Du wusstest …?«
Das Grinsen des Mia-Wesens erinnerte fast an ein Lächeln. »Aber natürlich. Oder dachtest du tatsächlich, mir sei etwas in meiner eigenen Wohnung verborgen geblieben? Ich hoffte, damit deinen Wissensdurst endgültig zu befriedigen.«
»Aber wieso? Ich verstehe nicht …«
Sie kniete sich vor den Rand und fixierte mich mit ihren nachtschwarzen Augen. »Wirklich nicht?«
Und plötzlich begriff ich tatsächlich. »Die kleine Damiyat … sie war nicht etwa deine Urgroßmutter. Du selbst warst es! Habe ich recht?«
Mia starrte mich nur weiter mit ihren Onyxmurmeln an.
Ich wurde zunehmend nervöser. Damiyats Identifizierung war weit weniger erstaunlich als die Wahrheit, die tatsächlich dahinter verborgen lag. Mia hatte recht; im Grunde kannte ich ihr Geheimnis schon seit Langem. Ich hatte es bislang nur sehr geschickt vor mir selbst versteckt gehalten.
»Aber wenn du Damiyat warst«, so überlegte ich weiter, »dann musst du zuvor auch Attiya gewesen sein.«
Mia nickte
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