Katzenhöhle
verlassen müssen, erst recht nicht. Lena lächelte ihm zu, obwohl ihr nicht nach Heiterkeit zumute war.
Seine Berührung war ihr unangenehm. Jede Berührung war ihr unangenehm. Nur diese eine nicht – die jenes Mannes, ihres Mannes. Lena hatte von ihm geträumt. Sie hatten miteinander getanzt. Und dieser Tanz war ganz anders gewesen als jeder Einzelne, den sie je in Wirklichkeit getanzt hatte. Sie hatte ihn gelockt, und er war ihr gefolgt. Sie hatte sich ihm verweigert, und er sie erobert. Sie hatte ihn geführt, und er sie ermutigt. Jede Faser ihres Körpers hatte vibriert, überall hatte sie ihn gespürt, alles neu und doch so vertraut …
Julian sah sie immer noch an. Er schien auf eine Antwort zu warten. Seine Augen waren rot, feine Äderchen traten hervor. Ob er wieder eine Bindehautentzündung hatte?
»Danke.«
Das war alles, was sie schließlich sagte. Wann würde er endlich die Hand wegnehmen?
»Entschuldigung – ist hier das Büro von Lena Zolnay?«
Erleichtert registrierte Lena, wie ihre Schulter frei wurde. Sie hatte wieder Luft zum Atmen.
Lilian reichte Lena die Hand. Die saß über einem Berg von Papieren, ein Mann stand neben ihr. Das musste ihr Chef sein, seiner Miene nach zu urteilen. Er sah sympathisch aus. Feinsinniges Gesicht, silbergraue Haare, kurz geschnitten, nachdenklicher Blick. Obwohl auch sein Anzug ganz in Grau war, wirkte er alles andere als fad. Nur der Ausdruck seiner Augen beunruhigte Lilian. Fast besorgt musterten sie Lena, die von seiner Anteilnahme aber nichts merkte – oder nichts merken wollte.
»Ihr Schreibtisch sieht nach viel Arbeit aus. Was machen Sie da, Frau Zolnay?«
»Ich stelle Unterlagen für ein Akkreditiv zusammen«, erklärte Lena bereitwillig, als sei sie froh über Ablenkung. »Das ist eine besonders sichere Zahlungsmodalität für Aufträge im Außenwirtschaftsverkehr. Vor allem bei Lieferungen in außereuropäische Länder macht es Sinn, sich als Hersteller abzusichern, da man oft nicht weiß, ob man sein Geld auch wirklich bekommt.«
»Wie funktioniert das?«
»Der Kunde lässt über seine Bank im Ausland einer deutschen Bank mitteilen, welche Dokumente er für die Ware benötigt. Wenn die fertig ist, geht die Lieferung raus, per Luftfracht oder auf dem Seeweg, das spielt keine Rolle. Sobald ich die gewünschten Papiere vorliegen habe, schicke ich sie zur deutschen Bank, und diese reicht sie weiter an die Bank des Auftraggebers. Wenn alle Dokumente in Ordnung sind, überweist die Auslandsbank die Kaufsumme innerhalb einer vorher vereinbarten Zeit, unabhängig von der Lieferung selbst. Der Kunde kann die Ware aus dem Zoll holen, sobald er die Papiere bekommt. So sind alle Parteien zufrieden. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, alle Unterlagen ordnungsgemäß zu erstellen und rechtzeitig einzureichen.«
»Lena ist eine Spezialistin für solche Aufträge«, betonte der Mann in Grau stolz.
So wirkte sie auch, fand Lilian. Souverän thronte Lena über den unübersichtlichen Papierstapeln – was für ein Gegensatz zu ihrem sonstigen Verhalten.
»Haben Sie trotzdem fünf Minuten Zeit für mich? Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
»Sind Sie von der Polizei?«, fragte der Mann.
Lilian zeigte ihm ihren Dienstausweis. Er stellte sich als Julian Herzog vor. Heute war wirklich ihr Glückstag – schon der zweite Edelmann in weniger als zwei Stunden. »Kannten Sie Mira Scheidt?«
»Nein. Ich wusste nicht mal, dass sie Lena besucht hatte. Es ist wirklich eine Tragödie.«
Unsicher schaute er von Lilian zu Lena und wieder zurück, entschied sich dann aber dafür, seine Angestellte in der Obhut dieser Polizistin zu lassen. Er verabschiedete sich. Im Hinausgehen tröpfelte er etwas in seine Augen. Eine mechanische Bewegung.
»Der arme Kerl, er hat immer Probleme mit den Augen.« Lena schaute ihm nach. »Was wollen Sie wissen?«
Lilian war erstaunt. Soviel Einfühlungsvermögen hätte sie von dieser Frau nicht erwartet. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass Lena sich nicht viel Zeit nehmen würde. Sie wurde wirklich nicht schlau aus diesem Reh mit Krokodilspanzer.
»Ich wollte mit Ihnen noch einmal über dieses Poltern reden.«
Fast unmerklich zuckte Lena zusammen. »Darüber haben wir doch schon gesprochen.«
»Trotzdem möchte ich noch einmal den genauen Ablauf rekonstruieren. Sie sperren also die Tür auf und gehen in die Garderobe. Was genau haben Sie dort gemacht?«
»Ich ging zur Kommode und nahm den Stadtplan.«
»Er lag auf
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