Katzenhöhle
freundlich. Sonst nahm sie kaum Notiz von Lena, so wie umgekehrt. Die Nachricht von Miras Tod musste schon in Umlauf sein. Wer wohl gequatscht hatte? Etwa Julian? Es fiel Lena schwer, das zu glauben.
Ihr Schreibtisch war ein einziges Chaos. Die Unterlagen für das Akkreditiv aus China bedeckten die ganze Fläche. Das musste sie nächste Woche bei der Bank einreichen. Sie hatte also genug Zeit, um die noch fehlenden Dokumente zu erstellen oder bei den entsprechenden offiziellen Stellen anzufordern. Handelsfaktura und Packliste hatte sie schon, Luftfrachtbrief, Ursprungszeugnis und Versicherungszertifikat waren unterwegs. Der Luftfrachtbrief war heute Morgen per Fax eingegangen, den musste sie gleich prüfen. Irgendwo schlich sich meist ein Fehler ein, obwohl sie die Vorgaben für den Spediteur immer besonders auffällig markierte. Sie ärgerte sich schrecklich, wenn sie den Frachtbrief ändern lassen musste. Das Unangenehmste bei diesem chinesischen Kunden war, dass er jedes Mal eine Konsulatsfaktura verlangte, die vom Konsulat erst dann beglaubigt werden durfte, wenn die Ware schon unterwegs war. So wurde es immer ziemlich knapp, um die Dokumente innerhalb des Zeitlimits zur Bank zu schicken. Und dieses Mal ging es sogar um einen Zweihunderttausend-Euro-Auftrag.
Lena kopierte den Luftfrachtbrief und ging in ihr Büro zurück. Dann fing sie an, Buchstabe für Buchstabe von Kopie und Akkreditiv-Vorlage miteinander zu vergleichen. Fünf Telefonanrufe unterbrachen ihre Arbeit. Wie immer dringende Kundenanfragen, denen sie umgehend nachgehen musste. Bei der letzten Lieferung an ein wissenschaftliches Institut in Karachi hatte ein Paket gefehlt, ein Endanwender in Frankreich kam mit der Bedienungsanleitung des Rotationsverdampfers nicht zurecht, die Ersatzteillieferung für Australien war immer noch nicht angekommen … Apropos Ersatzteillieferung. Wo war denn dieser ungewöhnliche Auftrag mit acht Paketen voller Ersatzteile hingekommen? Sie musste sich irgendwann die Zeit nehmen, danach zu suchen. Wieder machte sie sich einen entsprechenden Vermerk in ihrem Tischkalender, um es nicht zu vergessen. Auch Julian hatte ungläubig, fast verstört geguckt, als sie ihm neulich die Mappe gezeigt hatte. Es war ein alter Auftrag für eine Universität oder ein Chemie-Institut mit einem unaussprechbaren Namen in irgendeinem fernöstlichen Land gewesen, bestimmt schon etliche Jahre alt. Der musste beim Umzug damals in eine falsche Kiste geraten sein und war erst jetzt wieder aufgetaucht. Da hatte Lenas Vorgängerin wohl nicht aufgepasst, so ordentlich und erfahren sie sonst gewesen sein mochte. Aber über Tote sollte man ja nicht schlecht reden – und denken schon gar nicht. Auch im Computer hatte Lena nichts über die Lieferung gefunden. Die Abmessungen der vielen Pakete hatten sie erstaunt, die Colli waren sehr groß gewesen. Da musste jemand einen unglaublichen Bedarf an Ersatzteilen gehabt haben.
Julian steckte den Kopf zur Tür herein. »Bin wieder da. War was Besonderes?«
»Nein.«
»Ich stell das Telefon auf meinen Apparat um.«
»Alles klar.«
Sie wollte ihn schon fragen, was bei der Besprechung mit dem neuen Geschäftsführer herausgekommen sei. Aber dann überlegte sie es sich anders. Sicher hatte er jetzt mehr als genug zu tun.
Doch Julian blieb an der Türschwelle stehen, unschlüssig.
Lena wandte sich wieder ihren Unterlagen zu. Auch wenn er alle Zeit der Welt hatte, sie hatte die auf jeden Fall nicht.
»Wie geht’s dir eigentlich, Lena?«
Überrascht hob sie den Kopf. »Wie soll’s mir gehen?«
»Na, hör mal! Du hast deine Schwester doch gefunden. Macht dir das nicht zu schaffen?«
Sie versuchte, sich auf den Luftfrachtbrief zu konzentrieren. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Dann hörte sie Miras Stimme – und ihre eigene. Beide laut und bedrohlich. Danach das dumpfe Geräusch der fallenden Statue.
Lena sagte nichts.
»Wo hast du geschlafen? Bei deinen Eltern?«
»Nein.«
Sie nannte ihm den Namen des Hotels, wo sie ein Zimmer für die nächsten Tage gemietet hatte.
Langsam kam er zu ihrem Schreibtisch und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wenn du Hilfe brauchst, dann sag’s mir bitte.« Das Schlucken fiel ihm offenbar schwer. »Du weißt ja … ich bin immer für dich da.«
Seine Hand war warm. Warm und feucht. Die Besprechung mit dem neuen Chef musste ihn aufgeregt haben. Julians Position in der Firma war nicht die stärkste. Und jetzt, wo sein Schirmherr die Bühne hatte
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