Katzenhöhle
versetzte. Als sie schließlich das Buch aus der Hand legte und ihrer Tochter einen letzten Gute-Nacht-Kuss gab, fiel ihr noch ein weiterer Grund ein, warum sie beim Vorlesen selten auf die Uhr schaute. Auch sie hatte sich als kleines Mädchen so herrlich geborgen gefühlt, wenn ihre Mutter ihr eine Geschichte vorgelesen hatte.
Hanna saß im Wohnzimmer und guckte fern: ›Romeo und Julia‹ als Ballettinszenierung. Interessiert trat Lilian näher.
»Eine supertolle Aufführung!« Hannas Augen glänzten. »Russisches Staatsballett. Die gastieren zurzeit in Regensburg. Viktor hat schon Karten besorgt.« Sie schob sich eine Praline in den Mund. »Für Sonntag. Das passt dir doch, oder?«
»Sonntag? Glaub schon. Find ich ja riesig! Ich war schon lange nicht mehr im Theater, geschweige denn in einem Ballett.«
»Äh … Da hast du was falsch verstanden. Viktor hat nur zwei Karten besorgt. Ich dachte eigentlich, dass du bei den Kindern bleibst.«
Das hätte Lilian sich denken können. Manchmal war sie schrecklich naiv. »Geht klar, Hanna.« Sie drehte sich um, so dass die Freundin ihre Enttäuschung nicht sehen konnte. »Ihr trefft euch auffallend oft in letzter Zeit.«
»Hm? Findest du?« Noch eine Praline landete in Hannas Mund. »Übrigens, wenn du rauf in dein Zimmer gehst – wundere dich bitte nicht über die vielen Kartons auf dem Gang. Das sind die Kinderklamotten, die wollte ich aussortieren.«
»Ich dachte, die hättest du schon lange verkauft.«
»Hab ich nicht. Man weiß ja nie, was man noch brauchen kann.« Ein unschuldiger Augenaufschlag, dann ein schmachtendes: »Diese Julia ist wirklich begnadet, schau mal!«
Auch wenn diese Julia die beste und einzige Tänzerin auf der ganzen Welt gewesen wäre, hätte Lilian sie keines Blickes gewürdigt. Dafür sorgte eine winzige Nuance in Hannas Tonfall.
»Was soll das heißen? Bist du etwa schwanger?« fragte sie skeptisch.
»Nein – leider. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«
Jetzt war Lilian wirklich perplex. »Was willst du denn mit einem Baby? Hast du schon vergessen, wie das war, als du zwischen Babygeschrei und durchwachten Nächten deinen Terminen hinterher gehechelt bist? Sei doch froh, dass das vorbei ist!«
Sie verstand nicht, wie Hanna so etwas auch nur denken konnte. Jede von ihnen hatte sich ihr Leben inzwischen ganz gut eingerichtet, stand wieder im Berufsleben und hatte ein gesundes, heranwachsendes Kind. So blieb endlich wieder mehr eigener Freiraum übrig.
»Und außerdem, Hanna – du hast doch schon ein Kind.«
»Dann krieg ich eben noch eins. Was wäre denn unsere Welt ohne Kinder? Da gäbe es nur Langeweile, noch mehr Korruption und nicht die geringste Aussicht auf Veränderung,« rief Hanna aufgebracht.
Lilian wusste, warum. Eigentlich hatte sie gedacht, Hanna hätte dieses Kapitel lange schon ad acta gelegt. Sie hatten kaum mehr darüber gesprochen. Seither.
»Ich hab mich nie wirklich damit abgefunden«, sagte Hanna leise. »Ich hoffte, dass meine Kleine eines Tages zu mir zurückkommen würde. Irgendwann.«
Die Zeit, von der Hanna sprach, lag lange zurück. Es war wie ein Albtraum gewesen: zuerst die Nachricht, dass Hannas Mann bei einer Klettertour in Frankreich ums Leben gekommen sei, und kurz darauf die Totgeburt von Hannas zweitem Kind im siebten Monat. Es wäre ein Mädchen geworden, Hanna selbst war im Krankenhaus fast gestorben. Ihr Sohn Tobias war noch ganz klein gewesen.
»Wenn ich damals den Mut für das neue Leben in mir gehabt hätte, hätte ich Rainers Tod leichter akzeptieren können. Dann hätte ich nicht die vielen Tabletten schlucken müssen. Und für ihn wäre es das schönste Geschenk gewesen: Genau zu dieser Zeit noch ein Kind, das mich an ihn erinnert. So hätte ein Teil von ihm weiterleben können.« Zwei Tränen kullerten über Hannas Wangen. Energisch wischte sie diese weg. »Das ist vorbei. Aber ein Kind will ich trotzdem!«
»Hast du auch einen Mann für diesen Plan?«
Hanna schwieg, wandte sich wieder dem Ballettstück zu. »Übrigens, David hat angerufen. Er wollte wissen, ob du seinen Geburtstag vergessen hast.« Angestrengt starrte sie auf den Bildschirm.
Obwohl Lilian sich vor Davids Geburtstagsfeier wirklich hatte drücken wollen, war sie jetzt froh, so schnell wie möglich dorthin zu verschwinden.
Vor Davids Haus stand ein einziges Auto – sein eigenes. So spät war Lilian doch gar nicht dran, erst kurz vor zehn. Sie klingelte.
»Wo sind deine Gäste?« fragte sie David,
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