Katzenhöhle
gestorben war. Und wenn sie selbst es zugelassen hatte. Sie dachte an seine starken Arme, die sie auf den Pferderücken hoben. Plötzlich hörte sie das Geklapper der Pferdehufe auf dem gepflasterten Hof, das Klack-Klack der Stöckelschuhe ihrer Mutter. Sie erinnerte sich an deren ewige Ermahnungen, ihr beim Vorlesen doch bitte nicht die Frisur zu zerdrücken. Sie roch den dampfenden Schweiß der Pferde, hörte ihr zufriedenes Schnauben, spürte den Wind in den Haaren beim ersten Ausritt des Tages. Und da waren auch wieder diese streitenden Stimmen aus der Küche und Viktors Gelächter, das anders klang als heute. Sie sah die hochaufgerichtete Gestalt ihres Vaters über den gedrungenen Rücken der Bauern in der Dorfkapelle und die verkniffenen Gesichter der häufig wechselnden Haushälterinnen, die nichts Gutes über den verwitweten Hausherrn zu sagen hatten. Und schließlich fegten die bösen Worte von ihrem letzten Streit alle anderen Bilder davon. Seither hatte sie ihren Vater nicht mehr gesehen, nichts mehr von ihm erfahren, sich nicht mehr bei ihm gemeldet. Die einzigen Nachrichten kamen von Viktor.
»Also, Lilly – wann kommst du?«
Das Nein lag ihr auf der Zunge. Warum sagte sie es nicht einfach? War es ihre Sehnsucht nach Verständigung und Frieden, die schon lange in ihr schlummerte? Oder wollte sie bloß warme Füße haben?
»Ich weiß nicht, Papa. Vielleicht … irgendwann.«
»Im Frühling ist es wunderschön, alles blüht und erwacht zu neuem Leben. Das wäre ein guter Zeitpunkt.« Er hörte sich erleichtert an. »Pack bequeme Hosen und Stiefel ein, du wirst sie zum Reiten brauchen.« Dann sein vertrautes Lachen. »Rebecca hat übrigens die gleiche weiße Blesse wie dein Scirocco. Lustig, nicht?«
Endlich wieder den Boden unter den Füßen spüren, nicht bloß achtlos darüber eilen, um an ein Ziel zu gelangen. Sich Zeit nehmen für das Atmen, für die Bewegungen, für gleichmäßige Schritte. Denn der Weg war das Ziel.
Lilian fühlte sich beschwingt, losgelassen, frei. So hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Das Laufen fiel ihr leicht, die kalte Luft tat ihr gut. Es war schon fast fünf und immer noch hell, erst gegen sechs würde es dunkel werden. Es ging wieder aufwärts. Die Tage wurden länger, sogar ein wenig blauer Himmel war zu sehen, fast schien die Sonne durch das heute lichtere Grau.
Sie hatte einen anderen Weg als sonst gewählt, nicht zum Baggerweiher oder Richtung Donau sondern in den Prüfeninger Schlossgarten. Draußen auf den Feldern waren noch zwei, drei Spaziergänger zu sehen gewesen, aber hier drinnen traf sie niemanden. Jedes Mal, wenn Lilian hierher kam, glaubte sie, in eine andere Welt einzutauchen, in eine lang vergessene, nie gekannte. Überall stille Mauern, undurchdringliches Dickicht und die unerbittliche Ehrwürdigkeit des Alterns. Nur die Vögel zwitscherten lauter, sogar in dieser Jahreszeit. Unter der Woche wäre es nicht so ruhig, denn seit ein paar Jahren beherbergten die alten Gemäuer von Schloss Prüfening die Regensburger Montessori-Schule. Gut, dass dieser Ort wieder genutzt wurde. Pater Emmeram, der Bruder des ebenfalls verstorbenen Fürsten von Thurn und Taxis, hatte sich bis zum Tod hierher in seine freiwillige Einsiedelei zurückgezogen, weitgehend unbehelligt von den Gästen der Schlossschänke, die dieses Kleinod in den warmen Monaten zu erkunden versuchten.
Acht Jahre. Acht lange, ereignisreiche Jahre hatte sie seine Stimme nicht mehr gehört. Warum hatte ihr Vater sie ausgerechnet heute angerufen? Hatte er intuitiv gespürt, dass sein großes Mädchen einen Arm brauchte, der es stützte und wieder aufrichtete? Nicht irgendeinen, sondern einen vertrauten, verlässlichen, wohlgesinnten? Sie dachte an diese letzte, unversöhnliche Begegnung. Da hatte keiner Verständnis oder Güte für den anderen gezeigt. Aber das war vorbei. Vielleicht war es endlich an der Zeit, neue Wege einzuschlagen – ganz gleich, wohin sie führten.
Eine unerklärliche Ruhe legte sich über Lilian. Nicht einmal der Gedanke an Viktor und Hanna, ja nicht einmal der an David brachte sie aus dem Gleichgewicht. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, atmete tief und konzentriert. Fast hatte sie das Gefühl, in Trance zu fallen. Alles um sie herum verschwamm. Nur das Laufen war wichtig: tap-tap, taptap, tap-tap. Nur ihr Atem: ein-aus, ein-aus, ein-aus. Und die Stimme ihres Vaters.
Dann sah sie die Frau. Zuerst wäre Lilian beinahe an ihr vorbei gelaufen, denn
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