Katzenhöhle
Was Herr Neumann wohl gehört hatte? Ob er etwas Interessantes über seine Nachbarin Lena zu berichten hatte? Auf jeden Fall war auch die kein Kind von Traurigkeit. Wäre sie sonst – drei Tage nach dem Tod ihrer Schwester – zum Tanzen gegangen?
Herrn Neumann war nicht wohl in seiner Haut. Das hatte Lilian sofort erkannt. Doch seine Aussage war aufschlussreich. Am Abend von Miras Tod hatte er in der Wohnung nebenan auf einmal laute Stimmen gehört, das musste so gegen halb acht gewesen sein.
Er hatte sich gewundert, wer da zu Besuch sei, denn seine Nachbarin hatte nie Besuch. Ihm war zwar aufgefallen, dass sie in den letzten Tagen sehr unfreundlich gewesen war – sie grüßte ihn nicht einmal, wenn sie sich im Treppenhaus begegneten. Auch die Haare schien sie gefärbt zu haben, ganz in Schwarz. Irgendwann an besagtem Abend krachte es nebenan, ein dumpfes, lautes Geräusch. Danach nur noch leises Wasserrauschen. Kurz darauf ging die Tür, ziemlich heftig. Herr Neumann schaute aus dem Fenster und beobachtete, wie Lena – jetzt wieder mit ihrer normalen Haarfarbe – das Auto aus der Garage fuhr. Er konnte nichts Besonderes an ihr feststellen, vielleicht war sie ein wenig atemlos.
»Wann ist sie weggefahren?«
»Ich schätze, das war zwanzig, fünfzehn Minuten vor acht.«
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher. Ich musste mich beeilen, um noch einige Anziehsachen zusammenzupacken. Maria, meine Nichte wollte mich um acht abholen. Sie war sogar fünf Minuten zu früh dran.«
»Was kann das für ein Geräusch gewesen sein? Eine zuschlagende Tür?«
»Nein.«
»Als wenn etwas Schweres auf den Boden fällt?«, fragte Lilian lauernd.
»Vielleicht.« Er setzte sich noch gerader hin. »Aber danach hab ich, wie gesagt, noch gehört, wie das Wasser in die Badewanne gelaufen ist. Das muss Frau Zolnays Besuch gewesen sein, denn sie selber ist ja fortgefahren.«
»Wann wurde das Wasser abgedreht? Bevor oder nachdem Frau Zolnay das Haus verlassen hat?«
»Hm … daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Wie gesagt, ich hatte es eilig, hab nicht aufgepasst.«
»Es wäre aber sehr wichtig.«
»Hm … vielleicht nachdem sie gefahren ist?«
Er fand keine endgültige Antwort. In seinem Gesicht tobte ein erbitterter Kampf. Schließlich war er ausgefochten.
»Wissen Sie, ich mag Frau Zolnay. Ich weiß, dass alle im Haus sie komisch finden. Sie lebt sehr für sich und redet nicht viel. Aber ich hab sie gern.« Ein zaghaftes Lächeln. »Ich bin ein alter Mann. Es freut mich, wenn sich jemand die Zeit nimmt, sich mit mir zu unterhalten. Normalerweise tut Frau Zolnay das, sie erkundigt sich nach meinen Verwandten und nach meinen Büchern.«
Erstaunlich behände sprang er auf und nahm eines der eng aneinander gereihten Bücher aus einem Regal, das bis zur Decke reichte. Es war ein antiker Wälzer über Vogelkunde, mit einem Einband aus echtem Leinen, in das verschlungene Ornamente eingewoben waren, ehrwürdig und wertvoll.
»Die meisten meiner Schätze sind Erbstücke, einige hab ich auch selber gekauft und restauriert. Diese Arbeit hält mich jung. Das hier hat mir Frau Zolnay zum 78. Geburtstag geschenkt. Schön, nicht?«
Liebevoll blätterte er eine Seite nach der anderen um und zeigte Lilian Farbtafeln mit Abbildungen von Vögeln. Nonnenkranich, Purpurhuhn, Krabbentaucher.
»Ich möchte wirklich nicht, dass Frau Zolnay Schwierigkeiten bekommt«, sagte er und legte das Buch zur Seite. »Ich hab in der Zeitung gelesen – die hab ich erst vorher durchgeschaut, als meine Nichte mich wieder hergebracht hat –, dass es bei dieser Morduntersuchung einige Ungereimtheiten gibt. Auf jeden Fall wissen Sie jetzt, dass Frau Zolnay zur eigentlichen Tatzeit – die soll ja erst nach acht gewesen sein – schon gar nicht mehr im Haus war.«
Als Kavalier der alten Schule ließ er es sich nicht nehmen, Lilian bis vor seine Wohnungstür zu begleiten. Sie dankte ihm. Solche Gesten waren selten. Es gab wenig Menschen, die den achtsamen Umgang mit dem anderen nicht mit dem Anklammern an scheinbar überholte Traditionen verwechselten. Dieser Gedanke machte sie traurig. Ebenso wie der zufriedene Gesichtsausdruck des alten Mannes, der so ganz anders war als zu Anfang ihres Besuches. Ob ihm bewusst war, dass er Lena Zolnay durch seine Aussage alles andere als entlastet hatte?
15
Billy hatte Lilian am Telefon beschrieben, in welcher Straße sein Atelier zu finden war. Sie wollte zuerst mit ihm reden, bevor sie nach Lena fahnden ließ.
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