Katzenhöhle
Ihren Vater konnte sie ja schlecht fragen, ob Lena einen Grund gehabt haben könnte, die eigene Zwillingsschwester umzubringen.
Lena selbst war nirgendwo zu erreichen. Ob sie wieder Zuflucht bei einem Baum suchte? Kannte der ihre sorgsam gehüteten Geheimnisse? Gerne hätte sich Lilian persönlich auf die Suche nach ihr gemacht. Sie scheute sich davor, eine offizielle Fahndung nach Lena auszugeben. Da passte etwas nicht … Aber egal. Wenn sich Lena noch nicht gemeldet hätte, sobald Lilian aus München zurückkäme, bliebe nur noch diese Möglichkeit.
Es war einfach, einen Parkplatz zu finden. Den Eingang zu Billys Werkstätte aufzuspüren, erwies sich als deutlich schwieriger. Nachdem Lilian alle möglichen, ausnahmslos nicht mit Hausnummern versehenen Eingänge abgeklappert hatte, landete sie schließlich vor einer schweren Eisentür. Wovor hatte Billy Angst? Dass ihm einer der Galeriebesitzer, der seine Kunstwerke nicht ausstellen wollte, ausgerechnet diese rauben würde? Als sie aber das Atelier betrat, staunte sie. Sie tauchte ein in Träume aus Stein, Visionen aus Holz, verbunden durch Wolken aus Staub und Berge aus Spänen, wegweisend in eine Zukunft aus Eisen und Bronze.
»Ist das alles von Ihnen?« Bewundernd ließ sie ihre Finger über glatte Flächen und kühle Materialien gleiten. »Und das will niemand haben?«
»Der eine oder andere schon. Aber zu einem Preis, über den ich nur lachen kann.« Billy sah nicht so aus, als wäre ihm nach Lachen zumute. »Wieder andere wollen von mir Auftragsarbeiten und sind dann enttäuscht, wenn mein Werk so ist, wie ich mir das vorstelle.«
Sie beobachtete ihn, wie er eine fast leere Flasche Bier austrank und eine neue öffnete. Seine Hände waren ruhig, nur in seinem Gesicht zuckte etwas.
»So ist das mit der Kunst. Jeder will was von ihr, aber anständig zahlen will keiner dafür. Wie bei einer Hure.« Ein tiefer Schluck. Das Zucken ließ nach. »Am liebsten sind mir die, die beeindruckt vor meinen Werken stehen bleiben und nachher nicht mehr damit fertig werden, sich das Maul darüber zu zerreißen. Wie glücklich diese armen Wichte tief drinnen sind, wenigstens einmal ihr armseliges Leben zu vergessen, nur für die paar Sekunden, in denen sie sich in meine Arbeit versenken können. Aber kaum sind sie wieder in ihrer Welt, verfallen sie in ihre verlogene Biederkeit und brüsten sich mit ihrem wahren Bezug zur Wirklichkeit, in der es solche Abartigkeiten nicht gibt. Als ob das jemanden interessieren würde!« Ein noch tieferer Schluck. »Und die Kritiker erst, die mag ich am liebsten. Lauter schlaue Köpfe, die mit ihrem Frust die Welt verbessern wollen. Weil sie nämlich selber nichts Neues erschaffen können. Bei denen langts nur zum Rummeckern, gut verpackt in geistreiche Sprüche. Aber das Resultat bleibt das Gleiche. Wissen Sie, was ein Kritiker laut Definition ist? Ein Versager, bei dem es nicht zum Künstler gereicht hat. Nur dazu, dass er ein paar Leute an den wichtigen Stellen kennt, bei der Zeitung, im Fernsehen oder sonst wo. Oder seit neuestem, dass er ein Computer-Freak ist, für den Networken und Chatten keine Fremdwörter sind. Und haufenweise Kohle kriegt er außerdem.«
Die Flasche war leer und landete in einer Ecke. Neben zig anderen und einigen Marmorklötzen, die so groß waren, dass Lilian sich fragte, wie die hierher gekommen waren. Dann sah sie den Kran in einer anderen Ecke des hohen Raumes, der mehr an eine Halle erinnerte.
»Wollen Sie was trinken? Ich hab auch Kaffee.« Vielleicht würde der ihr helfen, ihre Beklemmung wegzuspülen. Lilian nickte und folgte Billy in eine kleine Küche. Schmutziges Geschirr, noch mehr Bierflaschen, verschimmeltes Brot, Essensreste. Hoffentlich hatte Billy noch eine saubere Tasse für den Kaffee. Lilian übte sich in positiven Gedanken und zog es vor, im Atelier zu warten. Sie begutachtete die vielen Maschinen und Werkzeuge. Hobelmaschinen, Bohrer in verschiedenen Größen, Zangen, Hammer, schwere Feilen und Gerätschaften, von denen sie nicht wusste, wofür die gut sein sollten. Und überall Statuen, Plastiken, Kunstimpressionen, manche unvollendet, die meisten wirklich beeindruckend. Lilian stellte fest, dass sie Billy falsch eingeschätzt hatte. Er nahm seine Arbeit sehr ernst und verfügte über ein hervorragendes Gespür, welches Material sich für welche Bearbeitungsform und Kombination mit anderen Werkstoffen eignete. Bei den plastischen Darstellungen glaubte sie sogar, sie besäßen ein
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