Katzenmond
Sonntag, dem achtundzwanzigsten März dreiundneunzig, im Bergmann-Krankenhaus verstorben. Sie war zweiundzwanzig.«
»War Kaiser zufälligerweise zu der Zeit im Bergmann angestellt?«
»Nein. Die hatten da nur mal eine Rheumaspezialistin namens Kaiser. Aber dafür hab ich was anderes: Aus den Patientenakten geht hervor, dass die Kleine am siebenundzwanzigsten März per Notarzt mit Meningitis eingeliefert wurde, nachdem sie zu Hause kollabiert ist. Das ist eine Hirnhautentzündung.«
»Ach was«, sagte Simon leise.
»Jean-Pierre.« Die Stimme der Kommissarin rutschte eine halbe Oktave nach oben. »Ist dir klar, dass du einer der Gründe für Müllers Anfall bist? Legt eure Rüstungen an, bevor ihr wiederkommt. Ja, also … Das Mädchen wurde in die Intensivstation gebracht und massiv mit Antibiotika behandelt, aber es hat nichts genützt. Am nächsten Morgen ist sie gestorben.«
Liebermann blickte konzentriert aus dem Frontfenster. Vor ihnen versuchte eine Schwangere, mit zwei gefüllten Tüten auf ihr Fahrrad zu klettern. Eine davon löste sich hartnäckig immerwieder vom Lenker. Sie war weiß, deshalb konnte Liebermann sich nicht erklären, warum er an eine blaue Tüte dachte.
»Haben Sie schon etwas über die Angehörigen des Mädchens in Erfahrung gebracht? Eine Adresse beispielsweise?«
»Tja, da wird’s tragisch. Vater unbekannt, und die aktuelle Adresse der Mutter dürfte der Neue Friedhof sein. Sie ist im vergangenen August gestorben, ebenfalls im Bergmann, an den Folgen einer Leberzirrhose.« Kommissarin Holzmann räusperte sich vielsagend. »Allerdings war sie schon davor regelmäßig Gast auf der Inneren vom Bergmann. Ich hab dort also auch noch angerufen, et voilà! Mutter Morgenstern hat es sich nicht nehmen lassen, einer der Krankenschwestern ihre gesamte traurige Biografie zu erzählen.«
»Ich will nicht ihre gesamte traurige Biografie hören!«, sagte Liebermann erschrocken. »Mir reicht der Abschnitt, in dem es um ihre Tochter ging.«
»Der war der traurigste von allen.« Kommissarin Holzmann seufzte und raschelte mit irgendwelchen Papieren herum. »Als junge Frau war Sylvias Mutter Schauspielerin am Magdeburger Hoftheater. Und wohl auch so was wie ein lokaler Star, bis sie auf einer Premierenfeier …«
»Nur den Abschnitt mit der Tochter!«
»… Sylvias Vater kennenlernte. Irgendein Freund irgendeines Bühnentechnikers. Eins kam zum anderen, dazu vermutlich auch einige Gläschen, und das Ergebnis war Sylvia. Der Freund des Bühnentechnikers ließ sich nach der Empfängnis nicht wieder auftreiben, und Sylvia kam vorübergehend zu den Großeltern, damit ihre Mutter weiterspielen konnte. Aber nicht mehr so erfolgreich wie früher, nur kleinere Rollen, meist in …«
»Sylvia!«
»… Gastspielen. Irgendwann heiratete sie wieder, nahm Sylvia zu sich, bekam noch ein Kind und blieb fortan zu Hause. Nach der Schule fing Sylvia irgendeine Lehre an. Alles lief bestens,bis sie einen Jungen kennenlernte. Laut der Krankenschwester, die wiederum Sylvias Mutter zitiert, einen durchgeknallten Typen, Punk, Hausbesetzer und obendrauf noch Hilfsgärtner auf einem Friedhof, mit einem Wort: der Traum von einem Schwiegersohn. Von einem Tag auf den anderen verließ Sylvia denn auch die elterliche Wohnung, zog zu ihm, brach ihre Lehre ab, färbte sich die Haare und trieb sich rum. Nur ab und zu ließ sie sich noch zu Hause blicken, um ihrer Mutter Vorhaltungen wegen ihres spießigen Lebensstils zu machen. Das hörte erst auf, als ihr Stiefvater starb. Ab da meldete sie sich gar nicht mehr. Bis zu einem bestimmten Abend: Da rief plötzlich ihr Freund bei der Mutter an und bat sie um ihr Auto. Er wollte Sylvia ins Krankenhaus bringen, weil sie furchtbare Kopfschmerzen hätte und ständig brechen müsse. Tja. Und wie reagiert die liebende Mutter?«
»Sie greift nach einem Desinfektionsmittel und eilt in die besetzte Bruchbude, um ihre Tochter selbst zu fahren«, mutmaßte Liebermann.
»Daneben. Sie hält dem jungen Mann einen Vortrag über Verantwortung, Gewissen, Drogen und die Uhrzeit. Und was tut der undankbare Lümmel?«
»Keine Ahnung.«
»Er legt auf.«
»Hat der Lümmel einen Namen?«
»Den wusste meine Quelle nicht«, sagte Kommissarin Holzmann betrübt.
»Na schön. Rufen Sie im Josefs-Krankenhaus an, und fragen Sie dort nach Berichten der letzten drei Tage, bevor Sylvia Morgenstern im Bergmann eingeliefert wurde.«
»Im Josefs? Wozu?«
»Ich bitte Sie einfach darum.«
Liebermann steckte
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