Katzenmond
Schuld.«
»In meinen auch.«
»In meinen auch. Der Junge vermisst sie, er leidet, wird älter, fliegt vielleicht aus seinem Haus, weil es saniert wird, oder zieht von selbst aus und leidet immer noch. In seiner Trauer bestärkt ihn vermutlich sein Job auf dem Friedhof, wo er jeden Tag an Gräbern vorbeikommt. Vielleicht sogar an ihrem. Man könntebehaupten, dass sein Leben verkorkst ist, wie das von Sylvias Mutter. Nur fängt er nicht an zu saufen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Stimmt, wir wissen es nicht, er fängt also an zu saufen.«
»Das wissen wir auch nicht.«
»So kommen wir nicht weiter, Simon! Sagen wir, er säuft, aber er säuft sich nicht tot, denn eines Tages schreibt er einen Brief an Kaiser, in dem er ihn an die alte Geschichte erinnert.«
Der Anwärter wiegte den Kopf. »Warum erst jetzt?«
»Weil er mehrere Jahre fort war zum Beispiel«, meinte Liebermann und drosch auf die Tastatur seines Handys. »Ich weiß«, säuselte er in den Apparat. »Aber diesmal ist es unser Freund Simon, der Sie um einen Gefallen bittet.« Er lächelte und hob die Serviette auf, die Simon aus der Hand gefallen war. »Fragen Sie beim städtischen Friedhof nach, ob dort ein Gärtner arbeitet, dessen Freundin vor siebzehn Jahren ums Leben kam. Wenn ja, lassen Sie sich den Namen geben.« Er lauschte. »Keine Ahnung, wie viele gibt es denn in Potsdam? … Tja, dann rufen Sie die auch noch an, einen nach dem anderen, bis hin zum jüdischen. Und falls Sie Müller sehen, sagen Sie ihm, er soll sich bereithalten. Nehmen Sie notfalls Ihre Dienstwaffe aus dem Schrank, wenn er wild wird.«
»Das war mies«, sagte Simon säuerlich, als Liebermann auflegte.
Liebermann zuckte die Achseln. »Ich überlasse es Ihnen, sie nachher zu trösten. Fahren wir fort: Wo auch immer sich unser Freund die siebzehn Jahre herumgetrieben hat, plötzlich ist die alte Bitterkeit wieder erwacht. Dafür muss es einen Auslöser geben.«
»Er könnte Kaiser zufällig getroffen haben«, meinte Simon und warf eine Olive in sein Wasserglas. »Oder über ihn gelesen haben, oder andersherum: Irgendetwas hat die Erinnerung an seine geliebte Sylvia belebt.«
Liebermann schloss die Augen und hob eine Hand, um damit einen ausgedehnten Bogen in die Luft zu schreiben. Als er vollendet war, schlug er die Augen wieder auf.
»Kurz vor Kaisers Tod gab es in der Tagespresse einen längeren Artikel über die Aphrodite. Daneben war ein Foto abgedruckt, das neben Elsa Laurent und Constanze van Hoefen auch andere Schülerinnen und Gäste des Eröffnungsfestes zeigt. Was, Simon, wenn nun einer davon unser Doktor gewesen wäre?«
Bevor sie das Café verließen, kaufte Liebermann zwei Coffee to go. Da er sie trug, war es wiederum Simon, der den Anruf entgegennahm.
»Stellen Sie auf Mithören!«, befahl Liebermann. »Wir haben wenig Zeit.«
Kommissarin Holzmann war gerade mitten im Satz.
»… vom städtischen hat mir eine halbe Stunde lang das Ohr abgekaut.«
Liebermann stellte die Becher auf die Kühlerhaube und zog den Autoschlüssel aus der Hosentasche.
»Am weitesten hat er ausgeholt, um von einem gewissen Fräulein Morgenstern zu schwärmen, das ihren Freund regelmäßig von der Arbeit abgeholt hat.«
»Sehr gut! Hat dieser Freund einen Namen?«, fragte Liebermann mit gezücktem Block.
»Timotheus Wiese. Aber er arbeitet nicht mehr dort. Die Friedhofsleute haben seinen Geburtstag im Sommer zusammen mit seinem Ausstand gefeiert. Bis dahin hat er sich um die historischen Gräber und den Kompost gekümmert. Ich erspare euch, was der Alte mir alles über Kompostierung erzählt hat. Was Sylvia angeht, glaube ich, dass er verknallt in sie war. Aber lange nicht so wie Wiese. Nach ihrem Tod hatten seine Kollegen ernsthaft Sorge, dass er verrückt wird. Statt zu arbeiten, stand er stundenlang vor ihrem Grab und redete von Engeln. Irgendwann ließendie Monologe zum Glück nach, und er wurde wieder halbwegs normal. Bis er im Juni urplötzlich gekündigt hat, um einen eigenen Laden aufzumachen.«
»Ein Bestattungsunternehmen?«, fragte Simon.
»Nein, einen Fahrradladen. Und jetzt ratet mal, wo!«
»In der Nähe von Kaisers Praxis.«
»Versuch’s noch mal.«
»In der Brandenburger Vorstadt«, antwortete Liebermann ruhig an seiner Stelle. »In der Straße, in der sich die Aphrodite befindet.«
»Sie machen mir Angst, Hauptkommissar! Wissen Sie denn auch, dass Wiese vor siebzehn Jahren mit Sylvia schon mal in dieser Straße gewohnt hat?«
»Nein, das
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