Katzenmond
bin.«
Müller hob die Hand mit dem Röhrchen und hielt es sich bei schräg gelegtem Kopf an den Mund. »Ich hatte gleich das Gefühl, dass diese Aphrodite irgendwann Ärger macht«, murmelte er, als er es wieder sinken ließ.
»Ich auch.«
Nach diesem unverhofften Konsens starrten sie eine Weile stumm vor sich hin. Müller schluckte seine Pillen, Liebermann dachte an Dienstags Krallen und fuhr sich dabei mit einem Finger über die Reste seiner Schramme. »Frau Kaiser hat nicht gefragt, welches Gift ihren Mann zur Strecke gebracht hat«, sagte er.
»Schock«, meinte Müller und stieg ins Auto. »So etwas passiert häufig.«
»Ich an ihrer Stelle hätte danach gefragt.«
»Sie sind ja auch keine Frau«, entgegnete der Oberkommissar zweifelnd.
14
Franziska Genrichs Wochenende war weder so aufregend noch so befriedigend verlaufen wie das von Liebermann. Ihre Kinder waren unabhängig voneinander zu Open-Air-Konzerten gefahren, ohne sie zu fragen. Des Weiteren hatte ihr Mann, ebenfalls ohne sie zu fragen, ihr Schokoladenversteck im Schlafzimmer geplündert. Sie hatte das Silberpapier neben seinem Rechner gefunden. Ihr Groll auf ihn war gewachsen, als er am Sonntagabend eine überdimensionale Spanienkarte an die Wohnzimmerwand gepinnt hatte, damit sie und die Kinder sich demnächst jederzeit seinen Aufenthaltsort vergegenwärtigen konnten.
Genauso gut hätte er einen Grundriss der Wohnung aufhängen können, dachte Franziska wütend, mit einer Markierung seines Arbeitskabuffs.
Und zu allem Übel verfolgte sie seit dem Besuch des blauäugigen Kommissars in der Gerichtsmedizin ein Schatten. Sie hatte ihn abzuschütteln versucht, indem sie sich in ihre Krimis geflüchtet hatte, und als das nichts half, aufs Land, wo im Seitenschiff einer kleinen Dorfkirche ihre Lieblingsmumie vor sich hin dämmerte. Aber über Potsdamer Schatten war der verblichene Ritter Kahlbutz nicht sonderlich im Bilde. Das Einzige, was ihn interessierte, war seine Erlösung durch eine aufopferungsvolle Jungfrau oder einen Kirchenbrand.
Am Sonntagabend endlich war Franziska mit weichen Knien in den Keller ihres Hauses hinuntergestiegen. Seit sie denken konnte, gruselte sie sich vor jeder Art von Nebengelassen: Kellern, Schuppen, Dachböden, kurz: Räumen, denen Erinnerungen länger anhafteten als gewöhnlich, weil sie nicht laufend durch neue ersetzt wurden. Sie fürchtete, dass sie in den langen Phasen der Ruhe mutieren könnten. Ganz oben auf ihrer Alptraumlistestanden Keller, in denen sie die Mutationen geradezu roch. Anders als im Institut. Dort roch es nach Tod. Der Tod war eine klare Sache mit einem klaren, einwandfreien Geruch, der sich zur Not in ein Kühlfach schieben ließ.
Im Licht zweier altersschwacher Glühbirnen, die Taschenlampe in der Hand, hatte Franziska sich durch Berge von Lumpen, Kindermöbeln und Farbeimern gekämpft, bis sie endlich am Altpapierstapel angelangt war. Es musste eines der vorderen Bündel sein, denn der Artikel, den sie suchte, war höchstens eine Woche alt. Demnach war er erst am Freitag entsorgt worden.
So wie andere Tagebuch führten oder ihre Erlebnisse mit Freunden auswerteten, schnürte Franziskas Mann allwöchentlich Zeitungspakete, die er jeweils am Silvestermorgen zu einer zwei Stunden entfernten Sammelstelle fuhr. Sein zwanghaftes Jahresendritual hatte Franziska immer angeödet, jetzt kam es ihr entgegen. Nach einem kurzen Blick auf das Datum der obersten Zeitung hatte sie sich das Bündel geschnappt und war nach oben gehastet.
Eine Viertelstunde später lag die Seite mit dem Artikel und dem dazugehörigen Foto aufgeschlagen vor ihr. Franziska näherte sich ihm über den Rand einer dampfenden Teetasse hinweg und seufzte. Die Frau im Zentrum des Bildes trug kurzes schwarzes statt langes aschblondes Haar. Kleid statt Jeans, früher undenkbar. Sie war außerdem kantiger als ihr Vergleichsobjekt. Beim ersten Mal hatte Franziska den Artikel nur überflogen, Puffs interessierten sie nicht. Angesichts des Namens unter dem Bild hatte sie zwar gestutzt, sich aber gleich darauf gesagt, dass kein Vorname auf der Welt ein Unikat war, auch kein so verhältnismäßig seltener wie Elsa.
Und jetzt kam dieser Bulle mit der Sandpapierstimme und riss alles wieder auf. Hetzte ihr Wölfe und Hexen auf den Hals, dass sie langsam das Gefühl für das richtige Jahrhundert verlor. Zumindestdas Gefühl für das Jahrzehnt. Hatten sie 1979 oder 2009? Hieß sie Genrich oder Neuer? Sie wusste noch, dass Elsa geheiratet
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