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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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Wiedergabe oder das erste Porträt von mir. Es war das Bild meiner Jugend, das ich jahrelang in mir bewahrte – jemand Erschrockener, Unfertiger, der noch nicht zu etwas oder zu jemandem geworden war. Ich bemerkte den Baron am Rand des Spiegels, wie er mich ansah. Er wirkte nachdenklich. Es war, als begriffe er, was ich in dem Spiegel sah, als hätte auch er das einmal getan. Er warf mir ein Handtuch zu und sagte, ich solle mich säubern und mich wieder anziehen; meine Kleidung hatte er in seiner Sporttasche mitgebracht.
    Ich konnte es kaum erwarten, den anderen beim nächsten Treffen im Turbinenraum zu erzählen, was ich erlebt hatte. Ich konnte spüren, wie meine Autorität zunahm. Doch im nachhinein weiß ich, dass das, was der Baron mir gegeben hatte, ein anderes Ich war, so klein wie ein Bleistiftspitzer. Ein kleiner Ausweg, indem man jemand anders wurde, eine Tür, die ich noch mehrere Jahre lang nicht öffnete, erst nachdem ich erwachsen geworden war. Diese verschwommenen Nachmittage sind unvergessen. Ich erinnere mich, dass wir einmal, nachdem er geklopft und keine Antwort erhalten hatte und ich durch die Stäbe geschlüpft war und ihn hereingelassen hatte, zu unserem Schrecken einen Schlafenden in dem großen Bett vorfanden, mit einer Ansammlung von Arzneiflaschen auf dem Nachttisch. Der Baron hob die Hand, um Schweigen zu gebieten, trat näher und heftete den Blick auf den im Koma liegenden Körper, bei dem es sich, wie mir später klar wurde, um Sir Hector de Silva handelte. Der Baron berührte mich an der Schulter und deutete auf eine Metallbüste des Millionärs auf dem Toilettentisch. Während er sich in dem Zimmer nach Wertgegenständen umsah – nach Edelsteinen, wie ich annehme, denn das war es wohl, was Diebe suchten –, blickte ich hin und her und verglich den Kopf aus Metall mit dem echten Kopf. Die Büste verlieh dem Schlafenden etwas Löwenhaftes und Edles, ganz anders als das, was in Wirklichkeit auf dem Kissen lag. Ich versuchte die Büste hochzuheben, aber sie war zu schwer für mich.
    Inzwischen blätterte der Baron in diversen Unterlagen, ließ sie dann aber liegen. Statt dessen nahm er die kleine grüne Figur eines Froschs vom Kaminsims. Er bückte sich und flüsterte mir ins Ohr: »Jade.« Und dann entfernte er die Fotografie einer jungen Frau im Silberrahmen vom Nachttisch des Mannes, in einer fast zu intimen Geste. Als wir wenige Minuten später den Gang entlanggingen, sagte er mir, er finde die Frau sehr attraktiv. »Vielleicht«, sagte er, »begegne ich ihr irgendwann im Verlauf dieser Reise.«
    Der Baron ging später vorzeitig in Port Said von Bord, denn inzwischen wurde geargwöhnt, es gebe einen Dieb an Bord, auch wenn niemand aus der ersten Klasse verdächtigt wurde. Ich weiß, dass er bei unserem Aufenthalt in Aden mehrere Pakete aufgab. Jedenfalls hörte er plötzlich auf, mich zu sich zu rufen. Er nahm mich zu einem Abschiedstee in den Bedford-Salon mit, und von da an sah ich ihn nur noch selten. Ich habe nie erfahren, ob er gestohlen hat, um seine Reise in der ersten Klasse zu bezahlen oder um das Geld einem kranken Bruder oder einem alten Gaunerkollegen zuzustecken. Auf mich wirkte er großzügig. Ich weiß noch, wie er aussah, wie er sich kleidete, obwohl ich nicht mit Sicherheit sagen könnte, ob er Engländer war oder einer jener Mischlinge, die sich aristokratische Allüren zugelegt haben. Ich weiß nur, dass ich in Ländern, in deren Postämtern Steckbriefe aushängen, immer nachsehe, ob seiner darunter ist.

 
     
     
    UNSER SCHIFF FUHR WEITER in nordwestliche Richtung, gelangte in höhere Breitengrade, und die Passagiere spürten, dass die Nächte kühler wurden. Eines Tages teilte man uns per Lautsprecher mit, nach dem Abendessen werde auf dem Deck vor dem Celtic Room ein Film gezeigt. In der Dämmerung hatten Stewards am Heck eine steife Leinwand aufgespannt und einen Projektor aufgebaut, den sie geheimnisvoll bedeckt hielten. Eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung hatten sich etwa hundert Leute eingestellt, ein unruhiges Publikum; die Erwachsenen saßen auf Stühlen, die Kinder auf dem Boden. Ramadhin, Cassius und ich saßen so nahe wie möglich vor der Leinwand. Es war unser erster Film. In den Lautsprechern knisterte es vernehmlich, und unversehens wurden Bilder auf die Leinwand geworfen, die ein verblassender purpurner Himmel umrahmte.
    Es war wenige Tage vor unserer Ankunft in Aden, und deshalb war die Wahl des Films Die vier Federn ziemlich taktlos,

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