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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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in dem Laubwerk gebürstet hatte.
    Horace hörte nur mit halbem Ohr zu. Zuerst dachte er offenbar, ich schilderte eine Szene mit einem echten Tier, doch dann erstarrte er und fragte: »Welcher Hund?«
     
    Die Regel, die zwischen uns bestand, seine Regel, besagte, dass es außerhalb des Ateliers, außerhalb unserer Stunden dort, kein Wiedererkennen und keine Nachwirkungen geben durfte. Wenn Steine ins Wasser geworfen wurden, mussten sie lautlos versinken, ohne Kreise zu ziehen. Bei der Arbeit sah ich ihn fast nie. Die Pausen verbrachte ich mit anderen Mitarbeitern, und meinen Lunch nahm ich auf die zweite Terrasse im Garten mit, wo die Statue des zornigen Kolosses über mir dräute. Ich war gern ungestört, und wenn möglich las ich in meiner Mittagspause. Als ich mich an einem Donnerstag dort erholte, hörte ich auf einmal hektisches Atmen, als versuchte jemand ganz in der Nähe zu weinen oder sogar zu schreien, obwohl nichts weiter zu vernehmen war als das abrupte, ungleichmäßige Atemgeräusch. Ich stand auf, folgte dem Geräusch und stieß auf den Jungen. Offenbar hatte sein Vater ihn geschlagen. Als er mich sah, stieg ihm das Blut ins Gesicht, und er lief weg, als hätte ich ihm angetan, was immer ihm angetan worden war. Und das hatte ich tatsächlich. Schuld war meine kleine präkoitale Anekdote über ihn und den Hund.
    Am Nachmittag darauf machte ich Horace Vorwürfe für seinen Verrat, und ich schrie, wie sein Sohn es nicht fertiggebracht hatte. Ich war nicht außer Atem. Ich hatte meinen Zorn gesammelt, und ich war gekommen, um ihn zu verletzen, so gut es mir möglich war, weil er dem Kind so etwas angetan hatte. Ich sah ihn als den, der er war: ein Tyrann, der sich hinter seiner formvollendeten Macht und Autorität versteckte. Und ich wusste, dass er sich sein Leben lang auf diese Weise zwischen den anderen hindurchmogeln und nie etwas dazulernen würde. Als ich merkte, dass meine Worte ihm nichts ausmachten, holte ich mit dem Arm nach ihm aus, und er packte meine Faust und bog sie zurück. Die Schere, die ich in der Hand hielt, drang mir seitlich in den Bauch mit aller Kraft und allem Hass, mit denen ich nach ihm ausgeholt hatte. Er konnte sich darauf berufen, dass er nur meine wütende, verrückte Tat hatte abwehren wollen. Ich stand vornübergebeugt da, Kopf und Haare berührten fast meine Füße, und die Schere steckte in mir. Ich schwieg. Ich bewegte mich nicht und weigerte mich zu weinen, das vor allem. Ich verhielt mich genau wie der Junge. Horace versuchte mich aufzurichten, doch ich hielt meinen Kopf gesenkt. Ich musste so gebeugt bleiben, damit ich ihm weniger Angriffsfläche bot. Ich dachte mir, dass das, was geschehen war, ihn sogar erregt hatte, und bei einer anderen Reaktion von mir – hätte ich hilflos geweint und mich an ihn geschmiegt – hätten wir vielleicht versucht, uns noch einmal zu lieben, zum letztenmal, als wollten wir damit unsere Vergangenheit endgültig besiegeln. Dann hätte er gewusst, dass es ein für allemal beendet war. Denn er hätte niemals zugelassen, dass er in eine Lage kam, in der er sich wieder auf jemanden wie mich verlassen musste, jemanden, der eine so eindeutige Meinung von ihm hatte.
    »Lass mich die Wunde versorgen.«
    Und ich stellte mir vor, wie er meine Bluse öffnete, um nach dem Blut in dem schmalen pulsierenden Spalt auf meinem weißen Bauch zu sehen. Ich richtete mich langsam auf und verließ sein Atelier. Ich stand in dem schwachbeleuchteten Flur. Ich schwitzte. Ich sah hinunter und zog den Gegenstand heraus, und als ich das tat, erlosch das automatisch gesteuerte Licht ringsum, und in der Dunkelheit war ich noch einsamer. Ich blieb noch eine Minute lang stehen und wartete. Aber er kam nicht.
     
    Seit Wochen wurde in der Villa Ortensia ein Sommersonnenwendfest vorbereitet. Aus benachbarten Städten wurden Gäste erwartet, Künstler, Kritiker, Familienmitglieder, die Bürger von Florenz und wir alle, die wir in den Archiven und in den Gärten arbeiteten. Das war die jährliche Geste des Ehepaars gegenüber der Allgemeinheit. Sie bezeichnete das Ende der Saison. In den heißen Sommermonaten nach diesen Festlichkeiten kehrte die Familie nach Amerika zurück oder ging wieder auf Reisen, plünderte russische Herzogtümer. Die Sommerhitze war kein Vergnügen, selbst in den hohen steinernen Räumen der Villa, selbst in ihren schattigen Gärten.
    Das Fest würde in zwei Tagen stattfinden, und ich lag auf meinem Bett und fragte mich, ob ich dort erscheinen

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