Kay Susan
aber ich war entschlossen, weder meine Fähigkeiten noch meine anspruchsvollen sozialen Maßstäbe zu verlieren. Jules sorgte dafür, daß meine Anzüge tadellos in Ordnung waren und ich ein Hemd nie mehr als einmal tragen mußte. Der erste Raum, den ich in meinem Haus fertiggestellt hatte, war mein herrliches Badezimmer mit einer exotischen grünen Marmorwanne gewesen. Später baute ich ein Gästebad hinter dem zweiten Schlafzimmer an. Gott weiß warum; ich hatte bestimmt nicht die Absicht, mir Gäste einzuladen.
Sechs volle Jahre abgeschiedener, selbstgenügsamer Einsamkeit vergingen also, ehe ich den ersten von mehreren verheerenden Schocks erlebte.
Ich erinnere mich noch sehr genau an den Abend. Es war im Januar 1881. Ein kalter, unfreundlicher Pariser Dunst hatte sich wie ein Leichentuch über die Stadt gelegt und sie vorzeitig verdunkelt. Da ich seit einiger Zeit gelegentlich den Wunsch nach frischer Luft und Bewegung verspürte, wagte ich mich schon eine geraume Weile jeweils vor Beginn der Vorstellung hinaus auf die dunklen Straßen. Die Kapuze meines Abendumhangs verbarg die Maske, und in dieser Aufmachung gelang es mir, der Aufmerksamkeit der Passanten zu entgehen. Für jeden, der mich sah, war ich einfach ein weiterer frierender Pariser Bürger, der aus der Kälte und vor dem drohenden Regen nach Hause eilte.
Ich hatte die Rue de Rivoli erreicht und betrachtete voller Groll die traurigen, geschwärzten Überreste des Tuilerienpalastes, als Wind aufkam, der den letzten Nebel vertrieb und Sturmwolken über den Himmel jagte. Ich wollte mich auf den Rückweg machen, doch da öffnete sich der Himmel, in Strömen prasselte der Regen herunter, und binnen Minuten war die Straße überschwemmt. Wenn man es nicht mehr erträgt, sich mit gelassener Gleichgültigkeit naßregnen zu lassen, weiß man, daß man alt wird. Gebieterisch hob ich die Hand und winkte einer vorbeifahrenden Droschke.
Die Droschke fuhr in einiger Entfernung an den Straßenrand und wartete auf mich. Gleich darauf sah ein Mann, der aus einem Wohnblock auf derselben Straßenseite kam, die Droschke und eilte mit einem freudigen Ausruf darauf zu. Ich sah von ihm nur den Rücken, doch er trug einen Abendumhang wie ich, und um diese Stunde konnte ich sein Fahrtziel leicht erraten.
»Monsieur, ich glaube, das ist meine Droschke«, zischte ich so feindselig, daß er überrascht zurücktrat.
Instinktiv wandte ich mein Gesicht ab, damit er mich nicht sah, stieg in die Kutsche, schlug die Tür zu und klopfte mit dem goldenen Knauf meines Stocks an die Trennwand.
»Zur Oper!« sagte ich kurz, lehnte mich zurück und wartete darauf, daß der Kutscher mir gehorchte.
Erstaunt und ärgerlich merkte ich, wie die Tür sich öffnete und die Kutsche unter dem Gewicht des einsteigenden Mannes leicht schwankte.
Ich blickte auf, doch die Verwünschung, die ich auf den Lippen hatte, wurde nie ausgesprochen.
»Fahren Sie zu, Kutscher«, sagte der unverschämte Eindringling ruhig. »Ich will zufällig auch in die Oper. Dieser Herr und ich sind gute Bekannte, und ich weiß, er wird sich freuen, die Fahrt mit mir zu machen, stimmt das nicht, Erik?«
Ich konnte nicht antworten. Ich konnte Nadir Khan nur benommen und ungläubig anstarren.
»Ist es Ihnen recht, Monsieur?« rief der Fahrer unsicher.
»Ja!« versetzte ich. »Fahren Sie zu.«
Als die Kutsche auf die Fahrbahn rollte, nahm Nadir seinen Hut ab, zog die Handschuhe aus und legte beides neben sich auf den Sitz. Das erste, was mir an ihm auffiel, war sein Haar. Früher war es schwarz und glänzend gewesen, jetzt war es dünn und sehr grau. Ich war schockiert, wie er sich verändert hatte, schockiert und entsetzt.
»Nun, Erik«, sagte er, »das ist tatsächlich eine angenehme Überraschung.«
»Ansichtssache«, erwiderte ich und versuchte, meine widersprüchlichen Gefühle hinter einer Andeutung von Sarkasmus zu verbergen. »Was zum Teufel führt Sie nach all der Zeit nach Paris?«
»Ach«, sagte er achselzuckend, »ich bin schon seit vielen Jahren hier, seit ich aus Mazenderan entlassen wurde.«
»Entlassen?« fragte ich mit bösen Vorahnungen. »Wie lange waren Sie gefangen?«
»Fünf Jahre«, sagte er gleichmütig.
Ich schaute aus dem Fenster auf die regennassen Straßen, und meine Hand umklammerte den Spazierstock mit einer Mischung aus Wut und Trauer. Mein Gott! Fünf Jahre im Gefängnis von Mazenderan! Kein Wunder, daß er alt aussah. Es war vielmehr ein Wunder, daß er lebend herausgekommen war.
Was in aller
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