Kay Susan
hatte den Kokon aus Tönen zerrissen, in den ich ihn gehüllt und mit dem ich ihn gefesselt hatte. Im Unterschied zu Jules war er kein geborener Untertan; sein Wille war zu stark, sein Gefühl für Identität und Sinn zu hoch entwickelt.
Wann immer er sich entschied, gegen meine Stimme anzukämpfen, würde ich ihn nicht halten können.
Nach diesem Abend sah ich ihn so oft in der Oper, daß ich mich fragte, wie ich seine Anwesenheit in all den Jahren hatte übersehen können. Ich mußte mit geschlossenen Augen herumgelaufen sein.
Er schlich um das Theater herum, wenn keine Vorstellungen stattfanden, befragte Hunderte von Menschen, die auf dem Gelände arbeiteten, machte sich Notizen in ein kleines schwarzes Buch und war überhaupt höchst lästig. Bei seiner Ausdauer und Tüchtigkeit wußte ich, es war nur eine Frage der Zeit, bis er auf einige sehr interessante Antworten stoßen würde. Mein Unbehagen wuchs stetig.
Eines Abends, etwa zwei Monate nach Nadirs erstem Erscheinen auf der Bildfläche, kehrte ich in mein Haus zurück und stellte fest, daß die Alarmglocke läutete. Ich wußte, auf dem See war niemand. Es mußte also die Folterkammer sein. Jemand war in der Folterkammer!
Mein Herzschlag stockte vor Schreck, als mir klar wurde, um wen es sich handeln mußte.
Ich schaltete den Strom aus und rannte in atemloser Panik in die Kammer. Dort herrschte noch immer die Hitze eines Brennofens, aber es war jetzt stockfinster, und ich konnte nur unscharf den dunkleren Umriß des Körpers sehen, der von dem eisernen Baum in der Ecke hing.
Ich stand vollkommen still, gelähmt vor Entsetzen, zu schockiert, um auch nur einen Schrei auszustoßen.
Warum mußte das einzige Opfer dieser wirklich überholten Menschenfalle mein ehrlicher, hartnäckiger, tollkühner Freund sein? Es war meine Schuld, allein meine Schuld. Ich hatte gewußt, wie er war. Ich hätte die ganze Einrichtung abbauen sollen, sobald ich wußte, daß er auf dem Gelände war.
Nadir, ich habe Sie gewarnt. Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollten sich fernhalten!
Es dauerte lange, bis ich meinen Abscheu und Schrecken so weit überwinden konnte, um den Körper abzuschneiden und die Lichter einzuschalten. Das dunkel angelaufene, verzerrte Gesicht und die hervorquellenden Augen waren kaum zu identifizieren. Es dauerte eine volle Minute, bis ich plötzlich erkannte, daß es sich doch nicht um Nadir handelte. Meine Erleichterung war so groß, daß ich in hysterisches Lachen ausbrach.
Ich kannte diesen Mann. Sein Name war Joseph Bouquet, er war einer der Obleute der Bühnenarbeiter. Einmal hatten wir das Pech gehabt, uns auf der kleinen Treppe bei der Rampe zu begegnen, die in die Keller hinunterführt, und da ich die Maske nicht getragen hatte, hatte der Bursche mich ziemlich genau gesehen. Er war verantwortlich für eine der wenigen authentischen Beschreibungen, die jetzt in den Garderoben des corps de ballet kursierten.
Wie er auf meine geheime Zuflucht gestoßen war, wußte ich nicht. Vielleicht hatte er sich bei der Arbeit zufällig gegen den Mechanismus gelehnt, der im dritten Kellergeschoß den Stein bewegte. Wenn das der Fall war, würde ich die Anlage ändern und das Öffnen erschweren müssen. Ich konnte wirklich nicht zulassen, daß auf diese Weise Leute in meine Welt eindrangen.
Mit ein wenig Bedauern und ziemlich großem Ärger blickte ich auf den Mann nieder. Hatte ich die Leute etwa aufgefordert, herzukommen und sich umzubringen? Lockte ich sie willentlich in den Tod? Nein, und darum hatte ich keine Schuld an seinem Tod, man konnte mich nicht dafür verantwortlich machen. Ich war nicht mehr schuldig als irgendein Familienvater, der aus Angst vor Einbrechern ein geladenes Gewehr im Haus hat.
Es war also kein Mord, sondern Selbstmord. Und wenn ein Mann Selbstmord begehen will, wer bin ich, ihn daran zu hindern?
Mir gefiel der Gedanke nicht, den Leichnam einfach in den See zu werfen. Selbst wenn man sie beschwert, haben Leichen die unangenehme Angewohnheit, irgendwann wieder an die Oberfläche zu kommen.
Nach einer Weile kam mir eine Idee. Wenn Bouquet sich hier in meinem Haus das Leben genommen hatte, hätte er sich ebensogut dafür entscheiden können, das im dritten Keller zu tun. So trug ich den armen Kerl ein paar Stunden vor dem Aufgehen des Vorhangs dorthin zurück und hängte ihn ordentlich wie einen Mantel an einen Haken. Er war alt und hatte zweifellos ein trauriges, hartes Leben hinter sich. Vermutlich hatte ich ihm einen Gefallen getan.
Nach
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