Kay Susan
sich nicht einzubilden, daß Sie jemals wieder die Gelegenheit bekommen, an meiner Stelle zu singen!«
Sie hat mir diesen Galaabend nie verziehen. Ich glaube, sie hat der Direktion Schwierigkeiten gemacht, denn weder Monsieur Richard noch Monsieur Moncharmin haben mich seither auch nur angesehen. Anscheinend wollen sie vergessen, daß es je geschehen ist. Trotz meines Triumphes hat man mir keine bessere Rolle angeboten. Der Engel der Musik hat mich weiter unterrichtet, ohne etwas dazu zu sagen, und ich wage nicht, Fragen zu stellen. Ich kann nur annehmen, daß ich ihn doch enttäuscht haben muß, daß er entschieden hat, daß ich noch nicht bereit bin für die Welt, denn er hat nie auch nur gesagt: »Gut gemacht!« Nach der Galavorstellung, als ich sein Lob so nötig gehabt hätte, war er nicht in meiner Garderobe. Ich bin in dieser Nacht nach Hause gegangen und habe mich in den Schlaf geweint.
Ich war auf dem Rückweg in meine Garderobe, als der Vicomte mich einholte. Er war außer Atem, als sei er den ganzen Weg aus dem ersten Rang nach unten gelaufen, und ich spürte, wie ich errötete, als er meinen Arm nahm.
»Lauf nicht weg, Christine. Als wir noch Kinder waren, warst du nie so schüchtern. Warum siehst du mich neuerdings so an, als würdest du mich nicht erkennen?«
»Ach, Raoul«, seufzte ich, »das ist alles Vergangenheit. Wir können nicht mehr so tun, als seien wir gleichgestellt. Wenn ich jetzt in der Öffentlichkeit mit dir gesehen werde, würden die Leute sagen, ich sei eine leichtfertige Frau.«
»Nicht in meinem Beisein!« erwiderte er heftig.
Noch immer hatte er das alte, störrische Grübchen im Kinn. Er sah noch genauso entschlossen aus wie damals, als er in voller Bekleidung ins Meer lief, um meinen neuen Seidenschal zu retten, ungeachtet der wütenden Proteste seiner Gouvernante. Schon damals kümmerte er sich nicht darum, was die anderen dachten. Doch nun war er zwanzig, einer der bestaussehenden und begehrtesten jungen Männer Frankreichs, und seine Familie würde ihn sicher mit einer reichen und hochadeligen Dame verheiraten wollen. Es hatte keinen Sinn, mich an eine alte Kindheitsromanze zu klammern.
»Wir können nicht mehr zurück«, sagte ich traurig. »Diese
Zeiten sind endgültig vorbei.«
»Wer will denn zurück?« fragte er heiter. »Ich bitte dich
nicht mehr, mit mir Verstecken zu spielen. Ich bitte dich,
mit mir zu soupieren.«
»Das kann ich nicht!«
Ich war entsetzt. Der Engel der Musik hatte alle irdischen
Zerstreuungen streng verboten, keine langen Nächte, keine
Bewunderer. Ich mußte meine totale Hingabe unter Beweis
stellen, indem ich auf alle mädchenhaften Vergnügungen
verzichtete. »Vollkommenheit erfordert Opfer. Du mußt zur
Selbstverleugnung bereit sein«, hatte er mir einmal gesagt. Nun, es war nie ein Opfer gewesen, seinen unausgesprochenen Befehlen zu gehorchen – bis heute.
Das Grübchen in Raouls Kinn vertiefte sich, als er die
Stirn runzelte.
»Hast du eine andere Verabredung?«
»Ja«, sagte ich hastig, »ich fürchte ja. Es ist sehr peinlich,
Raoul, ich fürchte, ich kann wirklich nicht in letzter Minute
absagen.«
Er lächelte nonchalant, aber ich sah, daß er verletzt war. »Dann vielleicht an einem anderen Abend. Ich werde nicht
vergessen, vorher eine Verabredung zu treffen, ja?« »Raoul . . . «
»Oh, bitte, entschuldige dich nicht. Es war sehr überheblich von mir, anzunehmen, daß du so kurzfristig nichts Besseres zu tun hättest.«
Mit einer kühlen Höflichkeitsgeste hob er meine Hand an
seine Lippen und ging davon, ohne sich umzusehen. Ich hätte ihn gern zurückgerufen, aber ich wußte, daß ich das nicht
tun durfte. Die Schranken zwischen uns waren jetzt unüberwindlich und hatten nicht mehr nur mit der sozialen Stellung zu tun. Ich hatte vor dem Engel der Musik ein Gelübde
abgelegt, das ebenso heilig und bindend war wie das einer
Nonne. Ich war kein junges Mädchen mehr. Ich war eine Hohepriesterin, die einem erwählten Herrn dient. Raoul und ich
mußten einander vergessen. Wir hatten in keiner der beiden
Welten eine Zukunft.
Ich ging in meine Garderobe, puderte meine geröteten
Wangen und versuchte, meine Fassung wiederzugewinnen.
Ich würde nach Hause gehen und ein wenig Laudanum nehmen, um schlafen zu können, damit ich frisch und wach zu
meiner morgendlichen Lektion käme.
Als ich die Puderquaste wieder auf meinen Ankleidetisch
legte, zersplitterte die Luft rings um mich von der furchteinflößenden Resonanz einer Stimme, die direkt
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