Kay Susan
erkrankt, und ihre Vertreterin ebenso. Welch ein Jammer! Ob es an etwas liegt, das sie gegessen haben?
Diesmal verdächtigt niemand das Phantom der Oper, warum sollten sie auch?
Die Direktion ist verzweifelt, denn sie sind neu in diesem Geschäft und wissen nicht, wie sie mit Umbesetzungen in letzter Minute umgehen sollen. Und diese Umbesetzung muß wirklich in letzter Minute erfolgen, dafür habe ich gesorgt. Das Haus ist heute abend ausverkauft, und sowohl Richard als auch Moncharmin haben eine tiefe Abneigung dagegen, Geld zu verlieren. Sie geraten außer sich bei dem Gedanken, die Vorstellung absagen zu müssen. Die Antwort liegt natürlich da auf ihrem Schreibtisch. Sie brauchen nichts weiter zu tun, als auf das Phantom zu hören.
»Wie zum Teufel kommen diese schrecklichen Nachrichten hier herein, Moncharmin? Wir haben schon zweimal die Schlösser auswechseln lassen! Diese Erpressung ist allmählich wirklich kein Spaß mehr. Was will dieser verdammte Verrückte denn nun schon wieder?«
»Diesmal scheint er nichts zu wollen. Er teilt uns nur mit, als kleine Höflichkeit, wie er sich ausdrückt, daß Christine Daae alle Rollen von Carlotta beherrscht.«
»Daae . . . Daae? Ist das nicht die kleine Skandinavierin? Guter Gott, sie ist noch sehr jung, gerade aus dem Konservatorium entlassen, wenn ich mich recht erinnere. Glauben Sie wirklich, daß sie der Sache gewachsen ist?«
»Ich habe keine Ahnung, mein Lieber, diese Seite der Angelegenheit überlasse ich Ihnen. Sie erkennen wenigstens ein hohes C, wenn Sie eines hören. Ich behaupte nicht, etwas von Musik zu verstehen, ich bin nur hier, weil der Minister meine Konversation nach dem Diner liebt. Aber wenn die Daae diese Rollen beherrscht, dann sollten Sie sie schnellstens holen lassen. In einer halben Stunde geht der Vorhang auf, und ich glaube kaum, daß Carlotta oder Mademoiselle Wie-heißt-sie-noch-gleich bis dahin wieder auf dem Damm sind. Wir brauchen nur heute abend über die Runden zu kommen und ein paar Leuten den Preis für ihre Eintrittskarten zurückzuerstatten.«
Zurückerstatten?
In der tiefen Höhlung unter den Bodendielen des Direktionsbüros lächle ich über ihre erbärmliche Ahnungslosigkeit.
∗ ∗ ∗
Noch fünf Minuten, bis der Vorhang aufgeht. Ich bin krank vor Nervosität. Trotzdem ist mir zutiefst bewußt, daß ich nicht allein bin.
Er ist bei mir.
Ich fühle seine Gegenwart in meinem tiefsten Inneren. Ich bin voll von seiner Kraft und seiner Glorie. Seine Musik schwillt in meinem Leib wie ein schönes, knospendes Kind, und plötzlich habe ich keine Angst mehr. Die Feder zittert in meiner Hand, während ich diese Worte schreibe, aber ich habe keine Angst.
Ich werde ihn heute abend nicht enttäuschen!
Welch ein Triumph!
Sie hat das Publikum von den Stühlen gerissen. Die stehenden Ovationen dauern jetzt schon fast zehn Minuten, und noch immer klingt der donnernde Applaus in meinen Ohren.
Ich kann die Vollkommenheit meiner Schöpfung kaum glauben. Das Gefühl von Macht und Erhebung, das ich habe, wenn ich sie dort draußen auf der Bühne stehen sehe, fast unter Blumen begraben, ist überwältigend. Aber da ist noch etwas, eine Empfindung, die mir so fremd ist, daß ich sie kaum einordnen kann.
Glück? Löst es so ein Gefühl aus wie diese ungeheure Welle von Wärme und atemloser Euphorie?
Jetzt helfen sie ihr von der Bühne. Sie kann sich kaum auf den Füßen halten, sie versteht nicht, was mit ihr geschehen ist, es ist einfach zuviel. Sie sieht sich verzweifelt um, als erwarte sie irgendwie, mich in diesem Augenblick des Ruhms zu sehen, durch ein Engelslächeln belohnt zu werden. Aber sie sieht nichts, und in ihrem Herzen weiß sie, daß sie nie etwas sehen wird.
Ich wende mich von der Stätte meines Triumphs ab und verschwinde wieder in die Dunkelheit, aus der ich gekommen bin. Unter der Maske ist mein Gesicht tränennaß.
2. Kapitel
Heute abend habe ich den Vicomte de Chagny in seiner Privatloge gesehen.
Ich hatte den unverzeihlichen Fehler begangen, nach oben zu schauen, und war so verblüfft, als er anerkennend die Hand an die Lippen hob, daß ich beinahe vergessen hätte, mich zu verbeugen. Carlotta starrte mich an, als ich von der Bühne kam. Ich hatte sie ein oder zwei Sekunden länger warten lassen als sonst, ehe sie ihre letzte Ovation entgegennehmen konnte, und sie war wütend.
»Hören Sie auf, dem Publikum schönzutun, Sie intrigante Göre!« zischte sie, als sie an mir vorbeirauschte. »Sie brauchen
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