Kay Susan
aus einem
Grab zu kommen schien.
»Ich dulde keinen Ungehorsam!« sagte der Engel der Musik.
∗ ∗ ∗
Christine hat einen Verehrer! Wie hätte ich etwas anderes erwarten können?
Der Vicomte de Chagny. Raoul!
Er ist widerwärtig jung, gutaussehend, modisch, kommt aus einer alten und vornehmen Familie. Oh, ich weiß alles über ihn. Ich habe mich kundig gemacht, und bedauerlicherweise habe ich keinen Grund zu der Annahme, daß er ein Narr oder ein Schuft ist. Er kommt nicht wie so viele unserer vornehmen Herren nur deshalb in die Oper, um jeder hübschen Ballerina nachzulaufen. Offensichtlich läuft er niemandem nach, außer Christine. Die Aufrichtigkeit seiner Bewunderung leuchtet aus den ehrlichen Augen in seinem hübschen Gesicht mit den glatten, regelmäßigen Zügen. Er beobachtet sie sehnsüchtig durch sein Opernglas und applaudiert frenetisch, wann immer sie zu ihrer Verbeugung vor den Vorhang tritt. Er weist alle Anzeichen heftiger Verliebtheit auf, und ich kann mir nicht erklären, wieso seine Familie dem nicht ein Ende macht. Sein alter Adel müßte mich eigentlich schützen, aber wenn ich ihn anschaue, sehe ich eine naive Entschlossenheit, die mir angst macht. Mir ist bekannt, daß er keine Eltern mehr hat, die ihn streng an seine Pflichten gegenüber der Familie erinnern könnten, nur einen nachlässigen, duldsamen älteren Bruder. Wenn er sich eine Heirat in den Kopf setzt, werde ich eine schreckliche Niederlage erleiden.
Mehr als einmal habe ich ihn hinter die Bühne kommen und sie unter dem Vorwand einer alten Kindheitsfreundschaft belästigen sehen. Die Art, wie sie ihn in abwesenden, unaufmerksamen Momenten scheu anlächelt, macht mich krank vor Wut. Sie kennt meine Anweisungen, sie fürchtet meinen Zorn. Und doch verrät sie dieses unfreiwillige Lächeln, das sich nicht unterdrücken läßt, immer wieder.
Ich habe versucht, meine unvernünftige Eifersucht zu beherrschen, aber ich kann es nicht. Ich weiß, er wird alles verderben, wird in das zarte Gewebe meines Traums eindringen und ihn in Fetzen reißen. Wenn er nicht bald aufhört, ihr aufzulauern, wird er einen tödlichen Unfall erleiden, trotz Nadirs Wachsamkeit. Raoul de Chagny – Ich hasse ihn! Ich hasse ihn, weil er sich einmischt und mich zwingt, ihr gegenüber hart zu sein.
Ich kann es nicht ertragen, ihr wehzutun, und doch werde ich sie jetzt bestrafen müssen, und das ist allein seine Schuld.
Es fällt mir immer schwerer, mit Raoul fertig zu werden. Ich habe versucht, kühl zu ihm zu sein, aber er weigert sich, meine Kälte ernstzunehmen. Und es ist so schwierig, immer nein zu sagen, obwohl ich in Wirklichkeit ja sagen möchte.
Heute abend wartete er mit einem Arm voll Blumen in der Seitenkulisse. Diese Woche waren jeden Abend Blumen in meiner Garderobe, aber ich habe nicht gewagt, sie zur Kenntnis zu nehmen. Jetzt, vor aller Augen, war es unmöglich, ihn zu ignorieren oder seine Blumen nicht anzunehmen. Doch sobald ich mich losmachen konnte, rannte ich in meine Garderobe, warf die Blumen ängstlich auf einen Stuhl und lehnte meine heiße Wange an den kalten Spiegel, wie ein schuldbewußtes Kind, das seine Strafe erwartet.
»Du kommst spät«, sagte die Stimme des Engels in meinem Kopf. »Vergib mir«, flüsterte ich, »ich wurde aufgehalten und konnte nicht ausweichen . . . «
»Aha! Dem Vicomte de Chagny kannst du nicht ausweichen?« Seine Stimme verriet eisige Kälte, eine beherrschte Wut, die mich mit Schrecken erfüllte. Der Engel wußte alles. Es war unmöglich, etwas vor ihm zu verbergen.
»Er wartete auf mich, als ich von der Bühne kam. Ich habe ihn nicht aufgefordert zu kommen.«
»Du ermunterst ihn, dir nachzulaufen.«
»Nein«, stammelte ich fieberhaft, »das ist nicht wahr. Ich habe ihn weggeschickt und ihm gesagt, er solle mir nie wieder Blumen schicken. Oh, bitte . . . bitte, sei nicht zornig. Du weißt, daß ich deinen Zorn nicht ertragen kann.«
»Die Zeit des Zorns ist vorbei«, verkündete die Stimme unerbittlich. »Du hast meine Warnungen ignoriert, und jetzt wirst du bestraft. Solange du diese tödliche Schwäche nicht aus deiner Seele verbannst, wirst du meine Stimme nicht mehr hören.«
Ich fiel vor dem Spiegel auf die Knie.
»Er bedeutet mir nichts, ich schwöre dir, daß er mir nichts bedeutet. Ich werde alles tun, was du verlangst, ich werde ihn nie wiedersehen, wenn du es befiehlst. Aber verlaß mich jetzt nicht . . . bitte, verlaß mich nicht!«
Die plötzliche Stille war furchterregend.
Ich
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