Kay Susan
nicht los, er werde nicht zögern, Erik auf einen Seziertisch zu schnallen, um seine Neugier zu befriedigen.
»Madeleine«, neckte er mich liebevoll, als ich mich seinen beharrlichen Fragen immer mehr entzog, »Sie dürfen dem Geist der Wissenschaft gegenüber nicht so argwöhnisch sein. Ich dachte, Sie hätten Vertrauen zu mir . . . «
Ich wandte den Blick ab. Den Mann begann ich allmählich zu lieben, aber dem Wissenschaftler traute ich nicht; ich fürchtete den Wissensdurst, der wie ein reißender Wolf in seinen kühlen blauen Augen lauerte.
Ich stand von seinem Sofa auf, ging zum Fenster und starrte hinaus in das Grün des Dorfes und auf die alte Kirche, in der wir uns zum ersten Mal begegnet waren.
»Sie stellen zu viele Fragen«, murmelte ich.
»Natürlich!« Er schob das Notizbuch weg und trat neben mich. »Unersättliche Neugier ist keine sehr attraktive Eigenschaft, fürchte ich. Verzeihen Sie mir, Madeleine.«
Seine Hand lag beharrlich auf meinem Arm, aber ich wandte nicht den Kopf, um ihn anzusehen.
»Manchmal denke ich, alles, was Sie von mir wollen, sind Auskünfte über Erik«, seufzte ich.
Er drehte mich langsam zu sich, bis ich ihn ansah.
»Nicht alles«, sagte er.
Und küßte mich.
»Wer ist der Mann?« fragte Erik abrupt.
∗ ∗ ∗
Er wartete im Flur auf mich, als ich das Haus betrat. Seine Augen starrten mich mit anklagendem Blick an.
»Wer ist der Mann?« wiederholte er unbewegt, als ich keine Antwort gab. »Warum geht er mit dir spazieren?«
Es waren schon fast vier Monate vergangen, seit ich Etienne kennengelernt hatte, aber ich hatte sehr darauf geachtet, daß Erik uns nicht zusammen sah. Offensichtlich war ich an diesem Abend nicht vorsichtig genug gewesen.
»Wenn ich mich entschlossen habe, mit einem Herrn spazierenzugehen, so geht dich das nichts an!« erwiderte ich ärgerlich.
Ich hängte meinen Mantel auf und wollte an ihm vorbeigehen, aber er versperrte mir den Weg ins Wohnzimmer. Plötzlich verspürte ich Angst. Erik reichte mir jetzt bis zur Schulter und war trotz seines zerbrechlichen Körperbaus erstaunlich stark.
»Wer ist er, Mutter?«
Es war das erste Mal, daß er mich mit diesem Wort anredete, und die Verachtung in seiner Stimme war erschreckend.
»Er heißt Etienne«, antwortete ich scheinbar obenhin. »Etienne Baryé . . . er ist Arzt. Und nun laß mich vorbei, Erik. Ich lasse mich nicht auf diese impertinente Art befragen. Ich . . . «
Meine Stimme schwankte und verklang, als er mich weiterhin kalt anstarrte.
»Er ist ein Freund«, stammelte ich. »Du mußt einsehen, Erik, das ich das gleiche Recht auf Freunde habe wie jedermann im Dorf.«
Er machte eine Bewegung in meine Richtung, und instinktiv wich ich abwehrend einen Schritt zurück.
»Ich wünsche nicht, daß diese Freundschaft weitergeht«, sagte er unerbittlich.
Die Augen hinter der Maske hatten einen bohrenden Blick; so hatte er mich noch nie angesehen. Ich ging rückwärts durch den Flur zurück, bis ich mit dem Rücken an der Haustür stand, aber noch immer kam er mit merkwürdigem, unkindlichem Drohgebaren auf mich zu. In plötzlicher Angst schlug ich nach ihm, und nach diesem ersten zögernden Streich wurde die Wut stärker als meine Furcht vor der Bedrohung.
»Du!« schrie ich. »Du wünschst das nicht? Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden! Du hast mein Leben ruiniert an dem Tag, an dem du geboren wurdest – ruiniert! Ich hasse dich deswegen, ich hasse deinen Anblick und deine Stimme . . . dein Teufelsgesicht und deine Engelsstimme! Es gibt viele bösartige Engel in der Hölle, weißt du das? Ich wünschte zu Gott, du wärst bei ihnen, dort, wo du hingehörst. Ich wünschte, du wärest tot, hörst du? Ich wünschte, du wärest tot!«
Er schien zusammenzuschrumpfen, vor meinen Augen deutlich kleiner zu werden. Was immer er ein paar Sekunden zuvor gewesen sein mochte, jetzt war er nur noch ein Kind, das sich entsetzt duckte angesichts einer Strafe, die seine schlimmsten Befürchtungen übertraf. Es war, als seien all die häßlichen Gefühle, die seit seiner Geburt zwischen uns gestanden hatten, nun plötzlich und endgültig zum Ausbruch gekommen und hätten uns beide in ihrem Gift ertränkt. Und als ich sah, wie zerschmettert und elend er war, wußte ich, daß er diese Worte bis zu seinem Tode nicht vergessen würde. Nichts, was ich je sagen oder tun würde, könnte ihre ätzende Wirkung auf seine Seele aufheben.
Als ich neben ihm niederkauerte, unfähig, meinen Kummer und meine Reue zu äußern,
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