Kay Susan
hinaustraten.
»Das ist der neue Arzt, Monsieur Baryé.«
»Wie lange ist er schon in Boscherville?«
»Etwa zwei Monate. Er sagt aber, er werde nicht bleiben. Ich glaube, er hat sehr wenige Patienten, weil viele noch immer lieber Doktor Gautier kommen lassen.«
»Wie dumm!« sagte ich schärfer als beabsichtigt. »Doktor Gautier war schon vor zehn Jahren senil. Er muß etwa achtzig sein.«
Marie zuckte die Achseln. »Ach, du weißt ja, wie man im Dorf ist. Mama sagt, sie würde nicht im Traum daran denken, sich von einem so jungen Mann untersuchen zu lassen, und sie würde schon gar nicht gestatten, daß er mich behandelt.«
»Und was soll der junge Mann nach Meinung deiner Mama in der Zwischenzeit tun? Soll er hungern, bis sein Bart grau wird?«
»Pssst!« sagte Marie dringlich. »Er kommt heraus.«
Gegen alle Gebote guter Erziehung drehte ich mich um und traf wieder den Blick des jungen Mannes, der mich fixierte. Erneut machte er die elegante kleine Verbeugung und wünschte uns guten Morgen, ehe er mit auffallend langsamen Schritten weiterging.
Plötzlich mußte ich kichern wie das alberne, frivole Geschöpf, das ich einst gewesen war; auf einmal war ich wieder in der Klosterschule und verleugnete nur halbherzig mein Interesse an einem hübschen Gesangslehrer.
»Aber natürlich liegt mir nichts an ihm, gar nichts, gar nichts . . . « Ich war damals siebzehn Jahre alt, ein naseweiser kleiner Schmetterling, der nach den Jahren der einengenden Verpuppung einer streng katholischen Erziehung seine Flügel erprobt – siebzehn und bereit, mit einem einzigen, gierigen Schluck das Leben zu verschlingen.
Dann sah ich plötzlich wieder die staubige Straße vor mir, und der Sonnenschein spiegelte sich in der neuen Scheibe, die Erik in das Eßzimmerfenster eingesetzt hatte. Er war erst acht Jahre alt, und doch schon imstande, einfache Aufgaben so rasch und gekonnt zu erledigen wie der beste Handwerker des Dorfes.
Warum hatte ich auf einmal das schuldbewußte Gefühl, ich sei im Begriff, sein Vertrauen aufs schlimmste zu verraten?
9. Kapitel
Etienne Baryé! Wie rasch es geschah! Wie schnell er sich aus dem fremden jungen Doktor, der mich mit so ausgesuchter Höflichkeit jeden Sonntag nach der Messe begrüßte, in den hellsten Stern an meinem dunklen und leeren Himmel verwandelte! Bald kam es mir so vor, als dächte ich an nichts anderes mehr als an ihn. Ich maß die Zeit an der grausamen Länge der Stunden, die unsere geheimen Verabredungen voneinander trennten. Acht Jahre lang hatte ich wie eine Nonne gelebt; vielleicht war es unvermeidlich, daß ich mich nun in den ersten gutaussehenden Mann verliebte, der mich wieder mit Verlangen betrachtete.
Natürlich kannte er meine Geschichte. Nur zu viele waren eifrig darauf bedacht, ihm die schauerlichen Einzelheiten mitzuteilen. Trotzig ignorierte er die Unheilwarnungen und fuhr fort, jeden Sonntag an das Ende meiner Kirchenbank zu treten. Ich legte dann meine Hand auf seinen Arm und ging mit ihm das Kirchenschiff entlang; denjenigen, die mißbilligend zusahen, trotzte ich mit gleichgültigem Hochmut.
Er war jünger als ich und hatte ein gutgeschnittenes Gesicht. Seine Augen neigten dazu, Leute, die er verachtete, mit Geringschätzung anzusehen, und er tat den größten Teil der Einwohner von Boscherville als provinziell und bigott ab. Selbst die wenigen Patienten, die anfangs zu ihm gekommen waren, zeigten sich nach kurzer Zeit irritiert von seiner scheinbar arroganten Art, und auch seine Verbindung mit mir sorgte dafür, daß seine Praxis nicht weiter wuchs. Ich selbst lernte schnell, mich seinen Ansichten zu fügen, da mir unsere gemeinsamen Stunden zu kostbar waren, um sie mit Streitereien zu vergeuden. Ich lebte in ständiger Angst, er werde das aufgeben, was er als sein schweres Los in dem kleinen, rückständigenOrtbezeichnete,undnachPariszurückkehren,umsich der Forschung zu widmen. Seine rastlose Intelligenz und seine intolerante Ungeduld paßten sehr viel besser in ein Laboratorium als in die Schlafkammer eines jammernden Patienten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er das selbst einsehen würde.
In bezug auf Erik war er unersättlich neugierig. Er stellte mir eingehende, bohrende Fragen und notierte sich oft meine Antworten. Sein Interesse, so versicherte er mir, sei rein wissenschaftlich; er wolle eine Fallstudie erstellen. Wiederholt bat er, das Kind zu sehen, doch aus vielen Gründen wollte ich das nicht zulassen. Im Hinterkopf wurde ich das unbehagliche Gefühl
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