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Kay Susan

Titel: Kay Susan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das Phantom
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grünes, glattes Blatt zu streicheln, als wolle er es dadurch zum Wachsen ermutigen. Im folgenden Jahr gediehen die Pflanzen zu üppiger Blüte, genauso, wie er selbst einst unter meiner leitenden Hand gedieh. Diese Blumen, diese weiße Steinbank und die geheimnisvollen Modelle an den Wänden meines Kellers sind alles, was mir an Erinnerungen geblieben ist an die beiden Sommer, die die Landschaft meiner Welt für immer verändert haben.
    Vielleicht haben sie recht, diejenigen, die hinter meinem Rücken sagen, ich hätte schon lange vor der Tragödie begonnen, meine Fähigkeiten zu verlieren. Aber ich hoffe, daß sie sich irren. Ich würde gern glauben, daß ich an dem Tag, an dem ich Erik zum ersten Mal sah, so gesund war wie alle anderen; es wäre mir lieb, wenn meine Geschichte als Letzter Wille und Testament eines geistig gesunden Mannes dastünde.
    Ich erinnere mich noch ganz deutlich an die dunkle Stille der leeren Straßen, als ich an jenem Morgen zu der Baustelle hinunterging; ich erinnere mich an die schmerzliche Schwere in meinem Herzen, als ich über den Brief nachgrübelte, der mich aus meinem Bett getrieben hatte, noch ehe die Morgendämmerung anbrach. Manche Steinmetzmeister hassen eine Baustelle bei Sonnenaufgang, wenn das erste Licht die Grenzen ihrer täglichen Leistung grausam betont. Gestern so wenig geschafft, für heute blieb so viel zu tun! Doch für mich war die Morgendämmerung eine Zeit der Inspiration. Ich kann mich an keine Zeit meines Lebens erinnern, in der nicht ein unvollendeter Bau das war, was mich aufwachen, essen, ja atmen ließ. Nur, wenn ein Auftrag fertiggestellt war, spürte ich, daß mich Unzufriedenheit beschlich, das Gefühl eines Verlusts, das an Trauer grenzte. Erik verstand das. Erik verstand Dinge, von denen die meisten jungen Leute nicht einmal eine Ahnung haben; doch von Anfang an ließ mich die Tiefe seiner Schaffensleidenschaft um ihn fürchten. In meinem Kopf war immer das unbehagliche Wissen, daß es eines Tages unweigerlich die große Aufgabe geben würde, die glorreiche Herausforderung, der er jeden Zoll seines Wesens widmen – und an der er zum Verbrecher werden und scheitern würde. Über diesen Punkt machte ich mir nie Illusionen. Der Junge hatte getötet, schon lange, bevor er zu mir kam, und er hatte in Gedanken das Messer schon gegen mich gezückt, ehe wir noch ein einziges Wort miteinander gesprochen hatten.
    Was wie ein Morgen gleich jedem anderen begann, wurde zu einem Schicksalstag. Sobald ich die Baustelle betreten hatte, bemerkte ich eine schlanke Gestalt, die wie ein Geist über die grauen Balken des Baugerüsts glitt – eine Nachtmahr-Erscheinung im Licht der aufgehenden Sonne. Ich schrie nicht vor Schreck auf, sondern stand für einen Augenblick still da und sah zu, wie der Junge mit den Fingern liebkosend über die nassen Steinmetzarbeiten strich. Plötzlich hob er die Arme zu den Mauern wie ein Druidenpriester, der mit irgendeinem heidnischen Gott kommuniziert. Seine Hände begannen sich in rhythmischen Schwüngen zu bewegen, als modelliere er die ihn umgebende Luft. Es war einer der seltsamsten und schönsten Anblicke, die mir je zuteil geworden sind. Etwas unerhört Mystisches lag in dieser seltsamen Zeremonie, die in mir den Wunsch erweckte, sie heimlich weiter zu beobachten; doch mein Fuß berührte den Rand eines schlecht ausbalancierten Gerüstbrettes und ließ es krachend abstürzen. Der Junge sprang mit der Gewandtheit eines Panthers vom Gerüst und stand mir binnen einer Sekunde mit gezücktem Messer gegenüber.
    Der Anblick der weißen Maske verblüffte mich. Die Augen dahinter waren so angespannt und wachsam wie die eines wilden Tieres, als er mir ein Zeichen machte, mich gegen die Mauer zurückzubewegen und ihm den Weg zur Straße freizugeben. Rückblickend weiß ich, daß ich mich seiner instinktiven Weisheit hätte fügen und ihn gehen lassen sollen. Aber ich bin nie feige gewesen, und meine Neugier war von jeher übermächtig. Sein Messer war nur wenige Zentimeter von meiner Kehle entfernt; doch ich hob nur ironisch die Hände und fragte, ob er alte Männer immer so unhöflich behandle.
    Ich rechnete gar nicht ernstlich mit einer Antwort und war nicht darauf gefaßt, daß er plötzlich das Messer senkte und ein Ausdruck von Unsicherheit die wilde Aggression in seinen Augen ersetzte.
»Monsieur?«
    In dem Augenblick, in dem er sprach, war mir klar, daß er trotz seiner Zigeunerkleidung kein Gassenjunge war, der anderen die Kehle

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