Kaylin und das Reich des Schattens
den Namen wieder nehmen”, fügte er sanft hinzu, “aber ich glaube, das würde mir schwerfallen. Und so schwer, wie es dir fiel, den Namen anzunehmen, so schwer fiel es mir, ihn aufzugeben.” Aus seinem Tonfall wurde deutlich, welches von beidem er für wichtiger hielt.
“Lass meinen Arm nicht los”, sagte er ihr ruhig. “Wir werden einige der Meinen treffen, ehe du die Hallen verlassen kannst, und zwei von ihnen haben die Außenwelt lange ehe du geboren wurdest, zum letzten Mal gesehen. Sie werden sich zu dir hingezogen fühlen.” Seine Lippen verloren die scharfe Kante, die sein Lächeln war. “Sie werden dich nicht berühren, wenn sie das Zeichen sehen – aber es blutet, Kaylin, und du lässt nicht zu, dass ich mich darum kümmere.”
“Ich könnte Euch nicht aufhalten”, sagte sie leise.
“Nein. Aber ich habe mich entschlossen, dir in diesem Fall deinen Willen zu lassen. Es ist eine weitere Lektion.”
Die Halle war, wie der Name schon sagte, lang. Sie war auch hoch, aber nicht so hoch wie die große Halle, die zu den Gesetzeshallen führte. In ihren Höhen flatterten keine Aerianerflügel. Es war dort kalt, ruhig und perfekt. Merkwürdig, wie der Mangel an lebendigen Wesen etwas so perfekt erscheinen lassen konnte.
Sie gingen einige Minuten, vielleicht eine Viertelstunde, an verschlossenen Türen vorbei, und an Wandnischen, in denen Brunnen klares Wasser auf uralte Steine ergossen. Sie fragte nicht, woher das Wasser kam. Sie wollte es gar nicht wissen.
Aber als sie an das Ende des Korridors gelangten, erwarteten sie hohe Türen, und die Türen waren verschlossen. An jeder Seite war eine Nische in die Wand gelassen. Und in jeder stand, wie eine lebendige Statue, ein Barrani.
Auf den ersten Blick konnte sie nicht sagen, ob sie männlich oder weiblich waren. Sie waren gekrönt von dem gleichen dunklen Haar, das ihre ganze Art auszeichnete, und wie ihre unbewegten Gesichter war es perfekt. Ihre Haut war weiß wie Alabaster, und ihre geschlossenen Lider wurden durch einen Wimpernbogen auf die Haut gezeichnet.
Sie bedachte die Warnung des Koloniallords und hielt sich weiter an seinem Arm fest. Er ging neben ihr, bis die Barrani ihn flankierten. “Die Türen müssen geöffnet werden”, sagte er dann leise.
Lider wurden gehoben. Nichts sonst an den Barrani bewegte sich. Kaylin fand das beunruhigend.
Die Türen begannen sich in einem langsamen, langsamen Bogen nach außen zu öffnen. Sie ging auf sie zu, konnte es kaum abwarten, hindurchzugehen, aber der Koloniallord bewegte sich nicht. Sie drehte sich zu ihm um, und ihr Blick fiel auf die zwei Barrani an ihren Seiten.
Sie sprachen. Ihre Stimmen waren anders als alle Barrani-Stimmen, die sie bisher gehört hatte, sogar die des Koloniallords: Sie zischten fast. Sie erinnerten Kaylin an Geister. An den Tod, der den Namen Nightshade flüsterte.
Aber als sie ihre Hände ausstreckten, um sie zu berühren, erstarrte sie. Die Toten bewegten sich nicht
so
. Fließend, anmutig, still. Die betrachteten sie wie … Futter.
“Frieden”, sagte der Koloniallord kalt.
Sie schienen ihn nicht zu hören. Eisige Finger berührten ihre Arme. Eisige Finger, die brannten. Unglücklicherweise tat Kaylin das auch.
Die Hand zuckte zurück.
“Gehört sie Euch?”, sagte einer der zwei. Seine Stimme war jetzt kräftiger, als erinnerte er sich wieder daran, wie man sie benutzte. Seine Worte hatten mehr Ausdruckskraft, als sie je bei einem Barrani erlebt hatte, was merkwürdig war, denn sein Gesicht hatte so viel weniger.
“Sie gehört mir”, sagte Nightshade ruhig.
“Gebt sie uns. Gebt sie uns als Zoll für den Durchgang.”
“Ihr vergesst euch”, antwortete er. Er hob eine Hand, und dünne Schatten flossen aus seinen Fingern. Sie strichen über ihre Schulter und die Rundung ihres Arms, ohne sie zu berühren. Sie erstarrte, wo sie stand, denn sie war sich auf einmal sehr sicher, dass sie von diesen Schatten nicht berührt werden wollte.
“Sie riechen Blut”, sagte er ruhig.
Das ergab keinen Sinn.
“Sie sind alt”, fügte er leise hinzu, “und sie haben sich dazu entschieden, hier im Barrani-Schlaf zu verweilen. Sie sind auch mächtig. Weck sie nicht auf, Kaylin.”
“Ihr regiert hier.”
“Ich regiere”, sagte er leise, “weil ich beschlossen habe, mich ihnen nicht anzuschließen. Sie sind ausgestoßen, und sie sind schon lange nicht mehr Teil dieser Welt.” Er hielt einen Augenblick inne, ehe er ruhig weitersprach. “Sie waren schon auf dem
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