Kaylin und das Reich des Schattens
das Blut weg. “Wie viele von ihnen haben dir ihren Namen verraten?”
Sie schüttelte den Kopf. “Ich weiß es nicht.”
Die Enttäuschung in seinem Gesicht war ihr bisher der vertrauteste Ausdruck. Es erinnerte sie an den Falkenlord. “Keiner”, sagte er knapp. “Wenn sie es hätten, würdest du es wissen.”
Als das nicht die richtige Antwort hervorbrachte, schüttelte er sie. Aber selbst das tat er sanft.
“Wenn du ihre Namen rufst, können sie dich hören. Sie würden wissen, wo du bist. Und wenn sie nicht stark wären, würden sie sich zu dir hingezogen fühlen. Namen haben Macht, Kaylin.” Er hielt inne. Runzelte die Stirn. “Sie haben Macht, wenn du die Macht hast, sie auszusprechen.”
Und dann sprach er ihren ganzen gegebenen Namen, ihren neuen Namen. “Kaylin Neya.”
Sie spürte, wie er durch ihren Körper vibrierte wie eine Liebkosung.
Dann lachte er.
5. KAPITEL
E r brachte sie zurück in die Räume, in denen sie aufgewacht war, und dort fand sie auch ihre Dolche. Ihre Kleider waren allerdings immer noch nirgends zu sehen. Als sie ihre Augenbrauen hob, lächelte er. Sein Lächeln war so nah an ihrem Gesicht, dass es fast verschwamm, und sie so tun konnte, als sei es etwas anderes.
Ihre Arme
schmerzten.
Ihr Kopf tat weh. Und ihre Wange? Blutete immer noch.
Der Koloniallord setzte sich auf ihr Bett. Er streckte die Hand aus, um ihre Wange zu berühren, und sie zuckte zurück – was sie aus dem Gleichgewicht brachte. Sie war so armselig. “Nicht.”
Das Wort gefiel ihm nicht. Sein Gesicht fiel zurück in seine vertrautere, kalte Maske. “Ich will dir nicht wehtun”, entgegnete er. “Und ich habe auch nicht den Wunsch, sterbliche Kinder in mein Bett zu holen. Wer das Glück hat, die Langen Hallen betreten zu dürfen, kommt freiwillig.”
“Freiwillig.” Sie schnaubte.
“Kaylin, es mag sein, dass ich etwas falsch beurteilt habe. Du hast dafür bezahlen müssen. Erlaube dir dennoch nicht zu viel.”
Noch eine Warnung. Zu viele Warnungen. Sie verstummte. Aber sie ließ sich nicht noch einmal von ihm anfassen, und er versuchte es auch nicht. Sie schwiegen eine ganze Weile.
“Meine Kleider?”, fragte sie schließlich.
“Werden dir gebracht, wenn du die Langen Hallen verlässt. Sie sind hier, wie gesagt, unangebracht.” Er stand auf. “Wir werden dich für den Augenblick zu deinen Falken zurückbringen.”
Sie wartete, bis er an der Tür war, und als er es war, stand sie auf. “Ich will meine Arme bedecken”, sagte sie.
Er sagte nichts, sondern wartete einfach ab. Ihre Beine waren wackelig, und sie kam nur langsam, tollpatschig und ohne jede Anmut auf ihn zu. Als er ihr seinen Arm anbot, schluckte sie ihren gesamten Stolz hinunter und nahm ihn an. Es war entweder das, oder einfach vornüberkippen.
Teela hatte sie, nachdem sie ein Jahr bei den Falken gewesen war, zu einem Besäufnis mitgenommen. Damals war es ihr fast genauso gegangen, nur mit mehr Übelkeit. Allerdings nicht viel mehr.
Als er die Tür öffnete, war der Wald verschwunden.
Und stattdessen? Ein langer Korridor. Schon komisch. Sie spürte Magie, als sie durch die Tür ging, und unterdrückte einen Fluch. Es war ein leontinischer Fluch. Marcus wäre entsetzt gewesen, falls irgendetwas ihn entsetzen konnte.
“Du wirst dich etwa zwei Tage lang schwach fühlen”, sagte er ruhig, “falls es dabei bleibt. Iss, was du essen kannst. Trink, was du trinken kannst. Bleib nicht”, fügte er sanft hinzu, “allein.”
“Warum?”
“Ich verstehe nicht alles, was geschehen ist, Kaylin. Aber ich verstehe zumindest dies … durch deine Anwesenheit allein hast du das Siegel aktiviert. Zu meinen Lebzeiten habe ich es niemals brennen sehen. Und glaube mir, dass ich und die Magier, die mir zur Verfügung stehen, es versucht haben.
Ich spreche allerdings nicht von dem Siegel.”
“Euer Name”, flüsterte sie.
“Genau. Meinen Namen zu schenken fällt mir niemals leicht. Es ist, kurz gesagt, das älteste und das gefährlichste unserer Rituale. Es ist eine Bindung, eine dünne Kette. In manchen Menschen zerstört es den freien Willen und die Geistesgegenwart.”
“Ihr meint –”
“Ich hatte nicht vermutet, dass es den gleichen Effekt auf dich haben würde, aber es war ein Risiko.”
Sie hob ihre Augenbrauen. Er lächelte, aber es war ein scharfes Lächeln. “Geschenke der Barrani”, sagte er leise, “haben Dornen oder scharfe Kanten. Denk immer daran.”
Als könnte sie das vergessen.
“Ich würde dir
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