Kaylin und das Reich des Schattens
kaputt machen, es war ihr auch egal, wenn sie einen Ersatz mit ihrem eigenen schmalen Gehalt bezahlen musste. Für einen Spiegel war er armselig: alles andere als schmeichelhaft, und außerdem sah sie so gut wie nie ihr eigenes Gesicht darin, wenn sie ihn doch einmal benutzte. Andererseits, so wie sie sich fühlte, war es wahrscheinlich immer noch besser, das Gesicht von Markus zu sehen, als ihr eigenes.
Verbesserung oder nicht, sie konnte hören, wie das magisch versilberte Glas sein Knurren übertrug. Hatte es in ihrem Leben je eine Zeit gegeben, in der sie so dumm gewesen war, sich nach eigener Magie zu sehnen? Wahrscheinlich. Sie war sehr bedacht darauf, sich nicht daran zu erinnern, während sie sich aus dem Bett quälte.
Jemand hatte vergessen, die Läden am Fenster zu schließen. Das Problem dabei, alleine zu wohnen, war, dass sie immer wusste, wer an so etwas Schuld hatte. Das Leuchten des Spiegels drohte langsam selbst das Sonnenlicht verblassen zu lassen. Sie zuckte zusammen, als sie auf den Boden sah. Sie hatte sich gemerkt, wie der Schatten hinter ihrem ewigen Wäscheberg stand: Es war spät. Sehr, sehr spät.
“Kaylin Neya, ich
weiß
, dass du da bist!”
“Komme gleich”, sagte sie in ihrer besten Morgenstimme. “Hatten wir das nicht diese Woche schon?”
Marcus sagte etwas wenig schmeichelhaftes auf Leontinisch. Sie zuckte mit den Schultern, kurz bevor sie sich so weit wie möglich vom Spiegel entfernt zeigte. Es gab keinen Grund, ihn noch weiter zu verärgern. Falls das überhaupt ging, bei Marcus konnte man nie wissen.
“Ich bin es selbst langsam ein wenig über”, knurrte Marcus. “Aber anscheinend ist Caitlins Stimme nicht laut genug, um dich zu wecken.” Caitlin war eine vogelgleiche Frau, die ihm als Sekretärin diente – zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen Marcus eine brauchte. Er glaubte nicht an Papierkram und kümmerte sich normalerweise nur darum, wenn man ihm mit dem Tod drohte. Oder schlimmerem.
Sie sah ihn sich genau an. Immerhin trug er seine Dienstuniform nicht, es konnte also so schlimm nicht sein. Andererseits trug sie immer noch die gleichen Kleider wie gestern und war sich sicher, am Aufstellen seines goldenen Fells ablesen zu können, dass sie auch danach aussah.
“Neya, weißt du, wie spät es ist?”
“Nach Mittag?”
“Gut geraten. Wie viel nach Mittag?”
Sie zuckte zusammen. “Ich bin schon fast auf dem Weg.”
Er schnaubte. Er bezeichnete sie allerdings nicht als Lügnerin. “Gut. Wahrscheinlich überrascht es dich nicht, dass der Falkenlord auf dich wartet?”
Sie schloss die Augen. “Das war ja klar”, sagte sie, bückte sich aus dem Sichtfeld des Spiegels und langte nach ihren Stiefeln. Es brauchte eine Minute, bis sie merkte, dass sie noch immer an ihren Füßen waren. Es würde ein
langer
Tag werden.
Wie das Leben so spielte, hatte Clint Dienst am Eingangstor. Es war nicht seine Lieblingsaufgabe, im Grunde mochte die niemand, und die Falken und Schwerter wechselten sich damit ab und regten sich gemeinsam darüber auf, dass die Wölfe von dieser Aufgabe befreit waren. Allerdings gab es wenigstens regelmäßige Arbeitszeiten, etwas, was denjenigen, die auf Ermittlungen ausgeschickt wurden, versagt blieb. Und da Clint eine Familie hatte, war es für ihn gut.
“Du siehst furchtbar aus”, sagte er mit einem Stirnrunzeln.
Sie hob ihren verschlafenen Blick. “Du siehst wie Clint aus.”
“Deine Augen funktionieren jedenfalls.” Er lachte. Sie mochte das Geräusch immer noch, es brauchte mehr als einen verschlafenen Morgen, um sie zu grantig werden zu lassen, es zu schätzen zu wissen. Unglücklicherweise kam noch mehr. Clints perfektes Gesicht wurde sehr ernst, und das gefiel ihr kein bisschen.
“Was?”
“Du ermittelst in den Kolonien”, sagte er ruhig. Anscheinend hatte es sich also herumgesprochen. Wie viel, wusste sie nicht – und sie durfte nicht fragen.
Sie nickte. Es gefiel ihr überhaupt nicht.
“Komm schon rein”, sagte er und senkte seinen Speer. “Sofort.”
“Clint –”
Er schüttelte den Kopf. “Gestern warst du in den Findelhallen.”
“Toll. Weiß das jeder?”
“Marrin hat zuerst hierher gespiegelt, ja. Ich würde sagen, jeder weiß es. Na ja, jeder, der nicht am Schreibtisch geschlafen hat.”
Sie schnaufte. Aber sie hatte gerade keinen Grund, sich über die Findelhallen Sorgen zu machen. Sie nahm zwei Treppen auf einmal und schaffte es, nicht zu stolpern. Angst war ihr Motor.
Marcus wartete
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