Kaylin und das Reich des Schattens
natürlich schon auf sie. Dass im ganzen Büro um ihn herum gearbeitet und geklatscht wurde, beruhigte Kaylin etwas, aber sie war dennoch auf der Hut.
“Guten Morgen”, sagte sie, und mit einem Blick aus dem Fenster, “oder Nachmittag.”
“Ja”, sagte er ohne einen Muskel zu regen, also wie immer. “Ist es.” Er starrte sie ohne zu blinzeln an. “Geht es dir gut?”
Sie nickte.
“Marrin hat angerufen.”
“Ich weiß.”
“Hat sie dich zu Hause erreicht?”
Sie nickte wieder.
“Ich hatte gesagt, du sollst dir freinehmen.”
“Du hast zwei Tage gesagt”, entgegnete sie.
Er zuckte mit den Schultern. “Der Falkenlord hatte andere Pläne.” Er deutete auf die Türen hinter sich. “Er wartet im Turm.”
Sie begann an ihm vorbeizugehen, doch er packte ihre Schulter mit seiner Pranke.
“Wo ist deine Rüstung?”
“Zu Hause.”
“Dafür reißt der Quartiermeister dir die Ohren ab.”
Sie sackte ein Stück zusammen. “Wir gehen raus?”
“Ja. Ihr alle drei.”
Und dann erinnerte sie sich an Severn. Drückte ihre Schultern durch. “Könntest du –”
“Ja. Aber die zwei anderen sind bereits ausgestattet.”
Manchmal waren ganze Wochen so.
Die Treppe war länger als sonst. Oder ihre Beine schwächer. Da jeder Quadratzentimeter des Gebäudes mit magischem Schutz versehen war, wettete sie auf Letzteres. Und verfluchte es.
Auf den Ebenen zwischen dem Turm und allem anderen kam sie an Wachen vorbei und nickte ihnen zu; die nickten zurück. Sie erkannten sie. Sie fragte sich im Stillen, ob sie ihnen einige Wetten gewann – oder verlor. Es war ihr nicht entgangen, dass sich im Büro mit Wetten auf ihre Pünktlichkeit die Zeit vertrieben wurde. Traurigerweise hatten ihre Versuche, den Wetten ein Ende zu bereiten, nie gefruchtet. Pünktlichkeit würde nie ihre Stärke werden.
“Kaylin”, sagte der Falkenlord, als die Türen des Turmes sich öffneten. “Wie nett von dir, dich zu uns zu gesellen.”
Sie hatte den Anstand, zu erröten, und verbeugte sich etwas tiefer als absolut notwendig war. Es war kein großer Unterschied zu dem, was theoretisch vorgeschrieben war, aber es gelang ihr. Sie hatte schon früh gelernt, dass sie, wenn sie schon selbst wenn es um ihr Leben ging nicht pünktlich sein konnte, besser die hohe Kunst des Kriechens kultivieren sollte.
“Lord Grammayre”, fügte sie noch hinzu, während sie sich aufrichtete.
“Du warst gestern bei den Findelhallen?”
Sie zuckte zusammen, nickte aber. “Ja, Sir.”
“Verstehe. Ich glaube, du verbringst zu viel Zeit dort.” Er drehte sich zu den anderen Anwesenden um, und ihr Herz machte diesen langsamen Sprung, den man manchmal als “in die Hose rutschen” bezeichnete.
“Guten Morgen, Kaylin”, sagte Severn mit einem aufgesetzten Lächeln.
Tiamaris zog nur die Augenbrauen zusammen.
“Habt ihr lange gewartet?”, fragte sie den Drachen ohne viel Hoffnung.
“Nur zweieinhalb Stunden”, war die knappe Antwort.
Zu Severn sagte sie nichts, aber auch wenn sie Freunde gewesen wären, wäre das verständlich. Die Launen der Drachen waren berüchtigt, und man sagte Drachen nach, einem die merkwürdigsten Dinge übel zu nehmen. Zum Beispiel wenn man sie, sagen wir, in einem eiskalten Steinturm mehrere Stunden lang warten ließ.
“Es tut mir leid”, sagte sie und meinte es ehrlich. Sie hätte ihre Kehle gezeigt – das tat sie oft, wenn sie es mit einem wütenden Leontiner zu tun hatte – aber sie war sich nicht sicher, ob die Geste für einen Drachen dieselbe kulturelle Bedeutung hatte, und außerdem mochte sie ihre Kehle.
“Ihr habt eine Mission”, sagte der Falkenlord, als klar wurde, dass Tiamaris nichts weiter zu sagen hatte.
Sie richtete sich auf. “Sir.”
Er erwiderte ihren ebenen Blick und hielt ihn einen Moment, als wollte er ihren Gesichtsausdruck abschätzen. Ein schlechtes Zeichen.
Seine Worte waren noch schlimmer. “Es hat einen dritten Toten gegeben”, sagte er leise.
Sie fragte ihn nicht, was das bedeuten sollte, es war nicht nötig. “Wo?”
“In Nightshade.”
“Das weiß ich. Wo in Nightshade?”
Er blickte auf, und dann an ihr vorbei zu dem langen Spiegel. “Archiv”, befahl er dem verhassten Silberglas. “Pass gut auf, Kaylin. Das Bild kommt aus der Luft, und die Qualität ist nicht gut. Der Bericht ist erst ein paar Stunden alt, aber er wurde den Falken geschickt.” Er schwieg einen Augenblick. “Nichts ist berührt worden. Soweit etwas in den Kolonien unberührt bleiben
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