Kaylin und das Reich des Schattens
Sie zählte jeden Toten auf. Gab ihnen Namen. Und sie hätte damit weitergemacht, bis die Stunden zur Nacht verstrichen waren, und von der Nacht wieder zum Morgen. Er hielt sie davon ab. “Das war vielleicht sechs Monate nachdem die Zeichen aufgetaucht sind. Ein kleiner Junge war von einem Wagen geworfen worden, und er lag auf der Straße. Er blutete. Ich dachte, er würde sterben. Ich kam als Erste zu ihm, habe ihn hochgehoben – Severn hat gesagt, ich soll es lassen, aber ich konnte nicht anders.
Er zitterte, und er war kalt – er war kaum noch bei Bewusstsein. Aber ich habe die Kälte in ihm gespürt, und noch andere Dinge, gebrochene Dinge, Dinge, die irgendwie nicht stimmten. Ich könnte dir nicht sagen, was genau es war – damals konnte ich es nicht. Aber ich konnte sie heilen. Das wusste ich.
Und ich tat es. Ich habe dem Jungen hochgeholfen, während sein Vater den Wagen unter Kontrolle brachte und zu uns zurückgerannt kam. Ich habe seinem Vater nicht gesagt, was ich getan hatte. Severn hielt mich am Arm fest, und er schüttelte den Kopf. Ich habe immer auf Severn gehört”, fügte sie bitter hinzu. “Der Mann nahm seinen Sohn, dankte seinem Gott und dankte uns, weil wir versucht hatten, zu helfen. Er hat uns ein paar Münzen hingeworfen. Wir hatten nicht viel Stolz. Wir haben sie genommen und ihm gedankt.
Aber als wir nach Hause gekommen waren, hat Severn mich ausgefragt, und ich habe ihm geantwortet. Er hat gesagt – er hat mich versprechen lassen –, dass ich es nie jemand anderem erzählen würde. Ich fragte, warum – ich war damals so naiv –, und er hat gesagt, wenn ich es tue, wird jemand kommen und mich wegholen, und er würde mich nie wiedersehen. Der Gedanke war mir verhasst. Als er mir dann erklärt hat, dass ich ja nicht nur Fremde, sondern auch die Mächtigen heilen könnte, verstand ich, warum ich das Versprechen hatte geben müssen. Ich habe nie wieder davon gesprochen, aber ich habe die Gabe verwendet, und er hat mich gelassen.
Ich habe früher gedacht, ich könnte die Kinder finden. Die, die getötet wurden. Ich habe mir vorgestellt, dass ich sie alle
rechtzeitig
finde, und sie alle heilen könnte. Ich dachte, sie wären alle irgendwie wie ich – dass sie Heiler waren, und dass jemand sie alle umbringen wollte, statt ihre Gabe den Kolonien zu überlassen.”
“Du hast dich geirrt.”
Sie nickte stumm. “Aber die Zeichen haben sich verändert. Damals habe ich es nicht gemerkt. Severn muss es gesehen haben. Heute verstehe ich das, aber damals? Er war einfach nur Severn, und er war immer mein Beschützer gewesen. Er hat uns nie gesagt, dass es wieder einen Toten gegeben hatte, wenn wir nicht zusammen waren, als er davon erfahren hat. Er hat uns nie gesagt, wo. Manchmal erfuhren wir überhaupt nichts davon. Ich hatte keine Ahnung, dass es nur in Nightshade Tote gab. Severn muss es wohl gewusst haben.” Sie schüttelte den Kopf. “Ich besorgte mir bessere Keulen und Dolche. Ich wurde geschickter darin, mich zu verteidigen. Severn war größer und schneller als jeder von uns, aber er hat mich angetrieben, und ich wurde besser. Ich wollte Steffi und Jade nicht das Gleiche beibringen. Ich wollte sie beschützen. Ich glaube, ich wollte, dass sie so lange Kinder sein konnten, wie es ging. Das ist in den Kolonien nicht lange. Sie waren mein”, fügte sie hinzu. “Und ich war Severns.
Aber als fast drei Jahre vergangen waren und die Toten kein Ende nahmen, ließ uns Severn eine Nacht lang allein. Er ließ mich an seinem Posten an der Tür stehen, und er hat versprochen, dass er zurückkommen würde – aber er wollte mir nicht sagen, wohin er geht.”
Sie schloss ihre Augen.
“Er ist erst fast einen ganzen Tag später zurückgekommen. Das Warten war schlimm”, fügte sie hinzu. “Wir kannten die Kolonien. Wir wussten, dass Nacht war. Wir wussten, dass er vielleicht niemals zurückkehren würde. Aber ich war nicht mehr fünf Jahre alt, und ich musste an Steffi und Jade denken. Wenn wir mussten, konnten wir gemeinsam genug stehlen, um das Zimmer zu behalten, und wir konnten genug Essen hamstern, um nicht zu verhungern. Wir hätten es ohne Severn nie geschafft, und wenn ich die zwei Mädchen nicht gehabt hätte, ich weiß nicht, ob ich nicht in Panik geraten wäre. Aber ich hatte sie nun mal.
Als er zurückkam, war ich froh – etwa fünf Minuten lang. Aber alles an ihm war falsch. Er war – verletzt, auf irgendeine Art. Er hatte Angst. Ich hatte ihn vorher noch nie
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