Kaylin und das Reich des Schattens
verängstigt gesehen, nicht so.” Sie schloss die Augen. “Ich war dreizehn”, sagte sie leise. “Ich habe ihm vertraut.
Er hat mich beobachtet wie – wie ein Falke. Er hat Fragen gestellt, über die Zeichen auf meinen Armen. Da waren sie schon zu einem Teil von mir geworden. Niemand hatte mich bis dahin umgebracht. Ich habe ihm geantwortet. Das war alles.
Aber drei Tage vor der längsten Nacht hat er mich auf Nahrungssuche geschickt. Er hat mir Geld gegeben, damit ich nicht alleine stehlen musste – darauf hat er nie vertraut. Ich bin einkaufen gegangen. Ich hatte keinen Verdacht, nicht den geringsten.
Und als ich nach Hause in unser Zimmer gekommen bin …” Sie zitterte jetzt am ganzen Körper und hatte die Augen geschlossen. Sie konnte keine Worte finden. Und sie konnte auch nicht schweigen. Mit Mühe sprach sie weiter. “Blut.” Es war leise, nur ein gehauchtes Flüstern. “Das ganze Zimmer war voller Blut. Es war überall. Und Severn war mittendrin, Teil davon, beschmiert damit. Seine Hände waren noch nass.”
Ihre Augen waren trocken. “Steffi und Jade waren tot. Ich weiß nicht, ob sie gegen ihn gekämpft haben. Ich weiß nicht, ob er ihnen im Schlaf den Hals aufgeschlitzt hat, oder –” Ihre Kehle verschloss sich.
“Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn
gesehen
, und ich wusste alles. Ich habe geschrien. Ihn angebrüllt. Ich –”
“Du bist weggelaufen.”
“Ich musste weglaufen”, sagte sie leise. Die Eindringlichkeit der Worte lag in ihrem Inhalt, nicht in ihrem Klang. “Ich wusste, dass ich ihn nicht umbringen konnte. Ich wusste, dass mir keine andere Wahl blieb.”
“Wohin bist du gegangen?”
“Das ist egal. Ich bin gegangen. Ich habe nie zurückgeblickt. Ich habe sie nicht einmal begraben.” Ihre Arme waren wie versteinert unter ihrer Brust verschränkt. Ihr Körper wurde immer schwerer. Sie konnte Blut in ihrem Mund schmecken, sie fühlte es in ihren Wangen. Ihre Augen waren trocken. Sie wollte, dass sie trocken waren.
“Er hat sie umgebracht”, sagte sie leise. “Ich habe es gesehen. Er hat nicht einmal versucht, es zu leugnen.”
“Warum, Kaylin? Warum hat er sie umgebracht?”
“Ich weiß es nicht!”
Einen langen Augenblick lang sagte der Falkenlord nichts, dann überquerte er den Steinfußboden und kniete sich neben sie. Er berührte sie nicht. Er versuchte es nicht einmal.
“Am Ende bin ich hierhergekommen”, fuhr sie fort.
“Sechs Monate, nachdem du weggelaufen warst.”
Sie nickte. “Frag bitte nicht, wo ich war.”
“Das werde ich nicht. Ich kann es mir denken, und es ist nicht wichtig. Aufzeichnung, Ende”, fügte er hinzu, als wäre es ihm gerade noch eingefallen.
“Verstehst du jetzt?”, rief sie. Sie hob ihren Kopf und zwang sich, die Augen zu öffnen. “Verstehst du, warum ich es versuchen musste? Er ist zu den
Findelhallen
gekommen. Zu
meinen Kindern
. Ich kann nicht zulassen – niemals –” Ihre Fäuste schlugen auf den Stein und auf die goldenen Einlegearbeiten ein. “Sie waren
meine Kinder
”, brüllte sie. “Sie waren mein. Und sie haben uns beiden vertraut. Ich habe versagt. Er hat sie umgebracht.”
Dann umschlossen sie seine Arme. Sie hätte sie weggeschoben, aber Flügel folgten, bedeckten sie und verbargen sie vor den Blicken des Himmels.
Er ließ sie den Turm eine weitere Stunde nicht verlassen. Sie verbrachten die Zeit schweigend, in der ureigenen Wärme, die der Hafen seiner Flügel den Flügellosen gewährte.
“Bin ich suspendiert?”, fragte sie ihn, als er sich schließlich zurückzog.
Er sah ihr in die Augen. Seine hatten die blassgraue Farbe aerianischer Nachdenklichkeit. Sie wusste nicht, welche Farbe ihre hatten. Menschliche Augen wechselten die Farbe nicht, um abzubilden, was sich unter den verschlossenen Linien eines gefassten Gesichts verbarg. Nicht, dass ihres gefasst wäre. Aber er gab ihr die Zeit dazu.
“Ich kann dich nicht verurteilen”, sagte er ruhig. “Und wenn mir nur deine Worte zur Verfügung ständen, um zu richten, könnte ich nicht anders, als Severn die Schuld zuzuweisen. Ich kann sein Tun nicht entschuldigen, Kaylin.”
“Es
gibt
keine Entschuldigung!”
“Nein”, stimmte der Falkenlord ernst zu. “Keine. Aber manchmal, wenn einige Zeit verstrichen ist, gibt es etwas, das vielleicht nicht entschuldigen, aber doch erklären kann.”
“Du wirst nicht zulassen, dass er stirbt.”
“Nicht durch deine Hand.” Die Miene des Falkenlords war verschlossen. “Du hast schon früher
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