Keeva McCullen 6 - Der Wiedergänger (German Edition)
hin und her. Zudem wusste sie nicht, ob der Bolzen nicht das Herz verfehlen, den dürren, nur noch aus wenigen Hautresten bestehenden Brustkorb des Wiedergängers glatt durchschlagen und sich dann in Shane bohren würde.
Also riss sie kurzerhand einen etwa zwei Zentimeter dicken Ast von einem der umstehenden Bäume und befreite ihn hastig und mit bloßen Fingern von den kleineren Zweigen, wobei sich auch ein Großteil der Rinde abschälte. Zwei ihrer Fingernägel brachen dabei ab, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie bedauerte nur, dass sie ihre Wurfmesser in der Pension liegengelassen hatte, damit wäre es sehr viel einfacher gegangen.
Schließlich hielt sie nur noch das blanke Holz in der Hand, doch es fehlte eine Spitze. Beide Enden waren zerfasert und stumpf, damit konnte man nicht mal dieses Knochenhäuflein, mit dem Shane gerade kämpfte, pfählen.
Ohne Messer schaffe ich das nicht, dachte sie gerade, als hinter ihr ein wütender Schrei erklang. Sofort schnellte sie herum und sah, dass es dem Wiedergänger gelungen war, Shane zur Seite abzuwerfen. Shane war dabei anscheinend mit dem Kopf an einen Baum geprallt, jedenfalls verzog er schmerzerfüllt das Gesicht.
„Schnell, halte ihn fest!“, brüllte er.
Keeva reagierte sofort und rannte zu dem Untoten hin. Das Monstrum warf ihr einen zornigen Blick zu, drehte sich um und wollte gerade über die Wiese neben dem Wäldchen rennen, als im selben Moment die Sonne über den Hügeln im Osten aufging.
Abrupt blieb der Wiedergänger stehen und starrte auf den Lichtstrahl, der über die Wiese auf ihn zugekrochen kam. Er hob den Kopf und ein langgezogener, klagender Laut entrang sich seiner entstellten Kehle. Im selben Augenblick hatte das Licht ihn erreicht.
Auch Keeva blieb stehen, gebannt von dem Schauspiel, das sich vor ihren Augen abspielte. Völlig unvorbereitet überkam sie Mitleid mit der geschundenen Kreatur. Die Schmerzen, die das Wesen gerade durchmachte, mussten unvorstellbar sein. Es krümmte sich und hob die Reste seiner Arme, um sich gegen das Licht der aufgehenden Sonne zu schützen, doch dieser Versuch war nur eine sinnlose Geste. Brauner Rauch kräuselte sich von seinem zerfallenen Leib empor, es schrumpfte wie verfaulendes Laub, sein Körper wurde klein, verkrümmt und grau, und die ganze Zeit über gab es dieses grauenerregende, schmerzerfüllte Schreien von sich, das schließlich in ein wimmerndes Röcheln überging und dann - endlich - ganz verklang.
Ein graubrauner Klumpen lag jetzt vor ihr auf der Wiese. Shane, der sich inzwischen wieder aufgerappelt hatte, trat neben sie.
„Er ist noch immer nicht tot, nicht wahr?“, fragte Keeva leise.
Es war eine rhetorische Frage, mit der sie lediglich etwas Zeit schinden wollte. Denn irgendwie scheute sie sich plötzlich, dem kümmerlichen und nur noch entfernt an einen Menschen erinnernden Rest, der sich vor ihr auf dem Boden wand, auch noch einen Holzpflock ins Herz zu rammen. Das Ding hatte schon genug gelitten, fand sie - und doch gab es keine andere Lösung.
„Du weißt doch, was wir jetzt tun müssen“, erwiderte Shane leise.
Auch er wirkte nicht besonders erfreut über diese Aufgabe. Trotzdem nahm er ihr sanft den Ast aus der Hand, spitzte ihn mit seinem Messer an der einen Seite zu und ging zu dem mitleiderregenden Wesen, das sich noch immer stumm hin und her warf. Er kniete sich nieder, nahm den Holzpflock in beide Hände und sah zu Keeva hoch.
„Bereiten wir dem Ganzen ein Ende“, sagte er tonlos - und rammte den Ast mit aller Kraft in die Brust des Wiedergängers ...
*
„Wo mag der Wiedergänger wohl hergekommen sein?“
James Morgans Stimme klang inzwischen deutlich fester als noch in der Nacht zuvor.
Jetzt - relativ spät am Nachmittag - saßen sie alle im Garten der Familie Morgan und tranken Tee. Bis eben hatte Charlotte, die Tochter von James und Phoebe, ihnen noch Gesellschaft geleistet, war aber dann auf ihr Zimmer gegangen. Sie war noch immer sehr geschwächt von der überstandenen Krankheit und wollte etwas ruhen.
Keeva wäre ihr am liebsten gefolgt und hätte sich neben sie gelegt. Sie spürte den Drang zu gähnen und unterdrückte ihn nur mühsam. Gott, bin ich müde, dachte sie. Sie hatte einfach viel zu wenig geschlafen.
Nachdem sie den Wiedergänger getötet und seine Überreste an Ort und Stelle im Boden verscharrt hatten, waren Shane und sie im Licht des anbrechenden Tages zur Lichtung zurückgekehrt. Dort hatte Phoebe bereits alle Spuren des
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