Kein Alibi: Roman (German Edition)
abbauen. So bekam sie wieder einen freien Kopf und ließ ihre Gedanken ungehindert schweifen.
Sie machte sich Sorgen um ihre Patienten. Was würde mit ihnen geschehen, falls öffentlich bekannt würde, dass man sie in einem Mordfall verdächtigte? Was würden sie von ihr denken? Würden sie ihre Meinung über sie ändern? Selbstverständlich ja. Es wäre unrealistisch zu hoffen, sie sähen darüber hinweg, dass sie in eine Mordermittlung verwickelt war.
Vielleicht sollte sie schon morgen versuchen, sie zwischenzeitlich bei anderen Therapeuten unterzubringen, damit für den Fall einer Inhaftierung eine kontinuierliche Behandlung gewährleistet blieb.
Andererseits würde sich dieses Problem vielleicht von selbst lösen. Wenn sie angeklagt würde, rannten sie vermutlich scharenweise aus ihrer Praxis.
Beim Vorbeilaufen an einem Auto, das nur einen halben Block von ihrem Haus entfernt in der Parkbucht stand, fielen ihr die beschlagenen Scheiben auf, ein Zeichen, dass jemand im Fahrzeug saß. Der Motor drehte sich im Leerlauf, obwohl Scheinwerfer und Scheibenwischer ausgeschaltet waren.
Erst nach gut zwanzig Metern warf sie einen Blick zurück. Inzwischen waren die Scheinwerfer an, der Wagen bog gerade in eine Seitenstraße ein.
Vermutlich hat es nichts zu bedeuten, redete sie sich ein. Sie lief Gefahr, paranoid zu werden. Aber die dunkle Ahnung wollte nicht weichen. Beobachtete sie tatsächlich jemand?
Zum Beispiel die Polizei. Möglicherweise hatte Smilow Überwachung angeordnet. War das nicht die übliche Vorgehensweise? Oder Bobby könnte sie beobachten, um sicherzustellen, dass sie nicht mit »seinem Geld« durchbrannte. Es war zwar nicht sein Cabrio gewesen, aber er war erfinderisch.
Dann gab es noch eine Möglichkeit, eine weitaus bedrohlichere, eine, die sie gar nicht in Erwägung ziehen wollte, obwohl sie genau wusste, wie töricht und naiv gerade diese Haltung war. Sie hatte darüber nachgedacht, dass sich Lute Pettijohns Mörder
möglicherweise für sie interessierte. Wenn herauskam, dass man sie am Schauplatz identifiziert hatte, könnte der Killer befürchten, sie hätte den Mord mit eigenen Augen gesehen. Bereits der Gedanke ließ sie erschauern, und das nicht nur aus Angst vor einem Mörder. Ihr Leben war derzeit außer Kontrolle, und das fürchtete sie am meisten: die Kontrolle zu verlieren. In gewisser Weise war dieser Zustand ein realerer Tod als der eigentliche. Leben müssen, ohne Wahlmöglichkeiten oder freien Willen, konnte unter Umständen schlimmer sein als der Tod.
Vor zwanzig Jahren hatte sie ein für alle Mal beschlossen, dass ihr Leben nie wieder fremdbestimmt sein würde. So lange hatte es gedauert, bis sie überzeugt war, die Fesseln abstreifen und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen zu können.
Dann war Bobby wieder aufgetaucht, und alles hatte sich geändert. Inzwischen kam es ihr vor, als könnte jeder aus ihrer Umgebung in ihr Leben hineinreden, und sie schien machtlos, etwas dagegen zu tun.
Nach einem halbstündigen Lauf betrat sie über eine Seitentür von der Piazza aus ihr Haus, zog in der Waschküche ihre durchnässten Joggingsachen aus und wickelte sich in ein Handtuch, bevor sie durchs Haus ging.
Ihr ganzes Erwachsenenleben lang hatte sie allein gelebt, deshalb hatte sie auch nie Angst, wenn sie allein daheim war. Sie verspürte kein Bedürfnis, sich gegen Einbrecher zu schützen. Das Einsamsein jagte ihr mehr Furcht ein als ein eventueller Eindringling. Nur an Feiertagen, wenn nicht einmal die Gesellschaft guter Freunde die nicht vorhandene Familie ersetzen konnte, musste sie sich gegen die Leere wappnen. Selbst wenn man in einer kalten Nacht vor dem Kaminfeuer saß, wurde aus Einsamkeit nie Behaglichkeit. Wenn sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf auffuhr, geschah dies nicht, weil sie sich Geräusche eingebildet hatte, sondern weil die Stille des Alleinlebens allzu greifbar geworden war. Ihre einzige Angst war die, dass sie so vielleicht bis ans Ende ihres Leben existieren müsste.
Trotzdem fühlte sie sich heute Nacht etwas unwohl, als sie die Lichter im unteren Stockwerk löschte und nach oben ging. Die
Treppenstufen knarzten unter ihrem Gewicht. Sie war an die Proteste des alten Holzes gewöhnt. Aber heute Nacht wirkte das sonst so freundliche Geräusch unheilschwanger. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock hielt sie inne und schaute die Treppe hinunter, die im Schatten lag. Alles war leer und still, genau wie vorher, als sie zum Joggen gegangen
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