Kein Alibi: Roman (German Edition)
einem leisen Fluch davon, der ihm und seiner Mutter galt.
Drinnen in der Kneipe brauchten seine Augen mehrere Sekunden, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Im Shady Rest gingen zwielichtige Geschäfte über die Bühne. Obwohl er noch nie in dieser Kneipe gewesen war, erkannte er diese Art Lokal sofort. Jede Stadt hatte solche Kneipen, und Charleston bildete da keine Ausnahme. Ihm war mulmig zu Mute, denn eines wusste er genau: Falls einem der anderen Gäste dämmerte, dass er das Büro des Bezirksstaatsanwaltes vertrat, würde er sich hier nicht lange halten können.
Sobald sich seine Augen eingewöhnt und er wieder Mut gefasst hatte, entdeckte er auch schon die gesuchte Person. Sie saß allein am Ende der Bar und starrte trübsinnig in ein Longdrinkglas. Mit betontem Desinteresse für die misstrauisch-feindlichen Blicke, die ihn taxierten, ging Hammond zu ihr hinüber.
Loretta Boothe hatte grauere Haare als bei ihrer letzten Begegnung. Sie sahen aus, als sei die letzte Wäsche schon eine Weile her. Sie hatte versucht, Make-up aufzutragen, aber entweder hatte sie dabei geschludert, oder die Schminke war schon einige Tage alt. Auf ihren Wangen klebten Mascarakrümel, und ihr Augenbrauenstift war verschmiert. Der Lippenstift durchzog die feinen Linien rings um den Mund, während auf den Lippen selbst kein bisschen Farbe mehr war. Auf der einen Wange lag rosiges Rouge, die andere war teigig und farblos. Ein Gesicht zum Erbarmen.
»He, Loretta.« Sie drehte sich um und fixierte ihn mit trüben Augen. Trotz der Baseballkappe erkannte sie ihn sofort. Offensichtlich freute sie sich, ihn zu sehen. Die Tränensäcke unter den vorzeitig gealterten glasigen Augen verzogen sich zu einem faltigen Grinsen, im Unterkiefer zeigte sich ein Vorderzahn, der dringend einen Zahnarzt gebraucht hätte.
»Ach, du lieber Herr und Heiland, Hammond.« Ihr Blick wanderte hinter ihn, als ob sie einen Geleitzug erwartete. »Du bist der letzte Mensch auf der Welt, den ich in so einem Loch erwartet hätte. Treibst dich heute Nacht herum?«
»Ich wollte mich mit dir treffen.«
»Genauso unwahrscheinlich«, sagte sie mit einem trockenen Lachen. Es klang nicht witzig. »Ich hab nicht erwartet, dass du mit mir redest.«
»Wollte ich auch nicht.«
»Du hast jedes Recht, sauer zu sein.«
»Bin ich immer noch.«
»Was hat dich dann in eine mildere Stimmung versetzt?«
»Ein Notfall.« Rasch warf er einen Blick auf ihr fast leeres Glas. »Trinkst du noch was?«
»Hast du mich je einen ablehnen sehen?«
Da Hammond lieber in einer der abgetrennten Nischen sitzen wollte, half er ihr galant vom Barhocker. Ohne seine stützende Hand wären ihr beim Aufstehen vielleicht die Knie weggesackt. Der Drink, den sie auf der Bar stehen ließ, war nicht ihr erster gewesen, ja nicht einmal der zweite.
Wie sie so neben ihm dahinschwankte, gestand er sich innerlich ein, dass er dieses Vorhaben höchstwahrscheinlich schon bald bedauern würde. Aber wie hatte er zu ihr gesagt? Es handelte sich um einen Notfall.
Nachdem er sie sicher in einer Nische verstaut hatte, trat er wieder an die Bar und bestellte zwei Jack Daniels Black Label, einen ohne und einen mit Wasser und Eis. Ersteren schob er Loretta zu, als er zu ihr rutschte.
»Prost.« Sie hob ihr Glas, ehe sie einen kräftigen Schluck nahm. Gestärkt durch den Drink, wandte sie Hammond ihre Aufmerksamkeit zu. »Siehst gut aus.«
»Danke.«
»Ich mein’s ernst. Natürlich hast du immer gut ausgesehen, aber erst jetzt bekommst du Konturen. Bist in dein Gestell hineingewachsen. Woran liegt es nur, dass ihr Männer mit dem Älterwerden immer besser ausseht, während wir Weiber rasant einknicken.«
Er lächelte. Wie gern hätte er ihr Kompliment erwidert. Sie war knapp fünfzig, sah aber viel älter aus.
»Siehst besser aus als dein Vater«, bemerkte sie. »Dabei habe ich Preston Cross immer für ’nen richtig gut aussehenden Mann gehalten.«
»Kann nur wieder danke sagen.«
»Dein Problem mit ihm beruht teilweise –«
»Ich habe kein Problem mit ihm.«
Stirnrunzelnd schob sie seine Behauptung beiseite. »Euer Problem beruht teilweise darauf, dass er auf dich eifersüchtig ist.«
Hammond verzog den Mund.
»Es ist wahr«, verkündete Loretta mit der Überheblichkeit aller Betrunkenen und Weisen. »Dein Vater befürchtet, du könntest ihn übertrumpfen. Könntest mehr erreichen als er. Wirst vielleicht
mächtiger als er, wirst mehr respektiert. Das könnte er nicht ertragen.«
Hammond starrte
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