Kein Augenblick zu früh (German Edition)
rehäugiges Unschuldslächeln auf. »Wie geht es ihm heute?«
»Seine Wunde heilt gut. Sehr gut sogar. Morgen werden wir den Verband wechseln. Lebenswichtige Organe wurden nicht verletzt. Sie sollten öfters mit ihm reden. Möglicherweise hört er Ihre Stimme – das hilft ihm, das Bewusstsein zurückzuerlangen.«
Oder einen Herzinfarkt zu bekommen, dachte ich.
»Wird er wieder gehen können?«, fragte ich mit belegter Stimme.
Der Arzt setzte die undurchdringliche Miene auf, mit der er wahrscheinlich Angehörigen schlechte Nachrichten zu überbringen pflegte. »Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch nicht sagen, wie schwer die Verletzungen sind. Die Kugel trat hier ein« – er deutete auf Jacks Bauch – »streifte eine Rippe und blieb dann vor dem Rückgrat stecken. Erst wenn er aufwacht und wir weitere Untersuchungen durchführen können, lässt sich sagen, ob er seine Beine gebrauchen kann oder nicht.«
Ich schloss einen Moment lang die Augen. »Wann wird er aufwachen?«
»Wer weiß? Wir haben ihn zunächst mit starken Betäubungsmitteln behandelt, aber dann nach und nach die Dosis reduziert. Einige Leute hier« – er nickte zur Milchglastür, hinter der sich der Schatten des Wächters abzeichnete – »hätten ihn am liebsten letzte Woche schon wieder auf den Beinen gesehen. Sie setzen mich unter Druck, ihn aufzuwecken, aber ich kann da nicht viel machen. Er wacht auf, wenn er aufwacht, Punkt. Sein Körper muss sich von dem Trauma erholen. Jetzt reden sie bereits davon, ihn in ihr Hauptquartier zu verlegen – egal, ob er bei Bewusstsein ist oder nicht. Ich habe keine Ahnung, was sich diese Leute einbilden, aber …« Er murmelte noch etwas vor sich hin.
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Die Einheit wollte Jack verlegen? Sicher, Alex fand das gar nicht schlecht für uns – wir müssten uns dann nicht aufteilen und so weiter – , aber jetzt, da er tatsächlich verlegt werden sollte, gefiel mir die Sache überhaupt nicht. Plötzlich wurde mir klar, dass der Arzt noch immer mit mir redete.
»Ich mache mir Sorgen wegen dieser neuen Ausschläge seiner Herzfrequenz«, sagte er. »Wenn das wieder passiert, werde ich ihn weiterhin unter Beobachtung halten müssen.« Dabei schaute er mich bedeutungsvoll an, nickte mir kurz zu und ging hinaus.
Hatte ich das falsch verstanden? Nein, ich war mir sicher: Dr. Roberts hatte mich ziemlich deutlich aufgefordert, ihm zu helfen, Jack hier im Krankenhaus unter Beobachtung zu halten. Ich grinste. Mit ein bisschen Glück und ein paar weiteren Andeutungen über mein Liebesleben konnte ich womöglich Jacks Herzschlagfrequenz in die Höhe treiben und bewirken, dass er im Krankenhaus blieb. Vielleicht fand ich dann einen Weg, ihn herauszuholen, bevor sie ihn ins Hauptquartier verlegten. Aber war das wirklich klug? Oder reagierte ich in Panik über?
Ich ging zur Tür und riss sie auf. Sofort wirbelte der Wärter herum und stellte sich mir in den Weg, eine Knarre von der Länge meines Arms vor der Brust. Ich wollte ihn gerade anfauchen, mir aus dem Weg zu gehen, als ich ihn erkannte.
»Jo… Jonas?«, stammelte ich.
Er war höchstens ein oder zwei Jahre älter als ich, mit kastanienbraunen Augen und kupferfarben gebräunter Haut. In einem anderen Leben, einem Leben ohne Alex, hätte ich ihn sehr attraktiv gefunden.
»Lila«, sagte er lächelnd und checkte den Flur schnell in beide Richtungen. Niemand war zu sehen. »Wollte dich nicht stören.«
»Und du bist – was? Im Dienst?«
»Ja.« Beim Lächeln blitzten seine Zähne weiß auf – er wirkte plötzlich wie ein Sechsjähriger, der sich als Soldat verkleidet hatte. Immerhin schien es ihm peinlich zu sein, so vor mir zu stehen. »Die Sache mit deinem Bruder und Lieutenant Wakeman ist ziemlich heiß. Wir wollen nicht riskieren, dass ihm was passiert.«
Ja, klar. Bis sie ihn ins Hauptquartier verlegen und dort für alle Zeiten ins Gefängnis stecken konnten. Damit ihm bloß nichts passierte.
Er sah meine Reaktion und stammelte: »Ich mache Jack keine Vorwürfe. Er hatte wahrscheinlich keine andere Wahl … dich haben sie gekidnappt und dann dieser Demos und … was hätte er schon tun können?« Verlegen wandte er den Blick ab.
Ich hielt es nicht mehr aus. Ich war nicht scharf auf Small Talk mit einem Jungen, der eine riesige Knarre in der Hand hielt und sie ohne jedes Zögern auf mich richten würde, wenn er wüsste, wer und was ich war. So höflich wie möglich schob ich mich an ihm vorbei. »Ich
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