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Kein Blick zurueck

Kein Blick zurueck

Titel: Kein Blick zurueck
Autoren: Nancy Horan
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drängte Edwin zum Aufbruch, indem sie Unwohlsein vorschützte.
    Frühmorgens stand sie auf und ging auf der Suche nach einem Cracker, um ihren Magen zu beruhigen, in die Küche. Als sie den Schrank öffnete, flog ihr eine kleine, braune Motte entgegen. Sie wusste, was das bedeutete. Wenn sienicht das Mehl, den Reis und die Frühstücksflocken aus dem Schrank entfernte, wenn sie bis Mittwoch wartete, bis die Putzfrau kam, würden zwei Dutzend Motten kopfüber von den Regalen hängen. Auf der Suche nach den winzigen weißen Larven hielt sie eine Getreidepackung nach der anderen gegen das Licht und warf alles Verdächtige in den Mülleimer. Schließlich warf sie den gesamten Schrankinhalt weg und füllte eine Schüssel mit Wasser und Ammoniak.
    Wie konnte es so weit kommen? , fragte sie sich, während sie schrubbte. Sie hatte sich immer für einen zutiefst moralischen Menschen gehalten. Nicht prüde, überhaupt nicht, aber jemand mit Anstand. Ehrenwert. Sie würde weder jemals in einem Buch aus der Bibliothek etwas unterstreichen noch zulassen, dass der Metzger ihr zu viel Wechselgeld herausgab. Wie war sie an diesem Punkt angelangt, an dem sie sich mit solcher Leichtigkeit sagen konnte, Ehebruch mit dem Mann einer Freundin sei in Ordnung?
    Am folgenden Morgen schlug Mamah zum ersten Mal seit dem vergangenen Winter wieder ihr Tagebuch auf. Sie blätterte in dem dicken, kleinformatigen Buch und begriff, weshalb Lizzie und Edwin ihretwegen so besorgt gewesen waren. Den Februar über hatte sie meist starr und kaum ansprechbar im Bett gesessen und durch das Schlafzimmerfenster auf die Eiszapfen hinausgestiert, die von den Dachbalken herabhingen.
    Als sie jetzt in ihrem Tagebuch blätterte, erkannte Mamah in einem an sie selbst gerichteten Satz, den sie sich beim Lesen während des langen Winters notiert hatte, ihre wachsenden Sehnsüchte.
    Es genügt nicht, Mutter zu sein; auch eine Auster kann Mutter sein. Charlotte Perkins Gilman
    Solange Mamah sich erinnern konnte, hatte sie in sich eine Sehnsucht verspürt, die sie nicht hatte benennen können. In dieses Vakuum hatte sie alles hineingeschaufelt – Bücher, Clubausschüsse, ihren Einsatz für das Frauenwahlrecht, das Unterrichten –, und doch war es durch nichts auszufüllen gewesen.
    Im College und noch einige Zeit danach, in Port Huron, war sie voller Ehrgeiz gewesen. Sie hatte eine Schriftstellerin von Gewicht werden wollen oder vielleicht Übersetzerin großer Werke. Doch die Jahre waren dahingeflossen. Sie war beinahe dreißig, als Ed sie schließlich für sich gewann. Als sie ihn heiratete, hatte sie diese Träume zu Grabe getragen. Zurück in Oak Park, im Leben einer Ehefrau, hatte sie getan, was alle Frauen taten: Sie hatte Kinder bekommen. Sie hatte immer Kinder haben wollen – das war der Hauptgrund gewesen, weshalb sie Ed geheiratet hatte. Doch jetzt gab es ein Kindermädchen, und sie war wieder in ihre alte Gewohnheit zurückgefallen, sich in sich selbst zurückzuziehen, sich einzuigeln, zu lesen und zu studieren. Wenn sie ausnahmsweise für ein wenig Gesellschaft wieder auftauchte, schien ein jeder sich zu freuen, sie zu sehen. »Eigenwillig« war ein Wort, das sie von Zeit zu Zeit über sich zu hören bekam. Es bedeutete intellektuell. Aber sie hörte auch »reizend«.
    Im Frauenclub des 19. Jahrhunderts steuerte sie hin und wieder zu den Diskussionen aufrührerische Ideen bei. »Wenn Krankenschwestern für ihre Dienste bezahlt werden, warum dann nicht auch Hausfrauen?« Oder »Charlotte Gilman meint, Fabrikarbeiterinnen könnten eine richtige Karriere haben, wenn sie in Gemeinschaften mit gemeinsamer Küche und angestellten Köchen und Kinderschwestern lebten.«
    Die Frauen mochten sie trotz ihrer Provokationen. Eigentlichhielten sie jedermann mit intellektuellen Interessen für exzentrisch, aber schließlich war sie mit Ed Cheney verheiratet – einem herrlich normalen Kerl. Vielleicht nahmen sie sie auch einfach nicht ernst, wenn sie so etwas sagte, denn was hatte sie schließlich außer ihrem Gerede bisher vorzuweisen?
    Während des ganzen dunklen Winters hatte sie sich selbst von allen Seiten getadelt – an manchen Tagen als unfähige Mutter, an anderen, weil sie nicht mehr tat, als Mutter zu sein.
    Sieh dir Jane Adams an , notierte sie sich, oder Emma Goldman. Sieh dir Grace Trout an, die einfachsten Menschen, die es mit der Legislative des Staates Illinois aufnehmen, um sich für das Wahlrecht einzusetzen. Was ist los mit dir?
    Louise hatte in
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