Kein Blick zurueck
zurückhaltend. Doch sie war liebevoll zu den Kindern. Sie liebten sie, und im Verlauf dieser Tage schienen sie sie zu besänftigen. Zweimal, als Mamah sagte: »Erinnerst du dich…«, kehrte Lizzie mit ihr in die Kindheit zurück, wo sie sich beide sicher fühlten.
Als Lizzie abfuhr, herrschte ein unsicherer Friede zwischen ihnen. Mamah hatte Angst, sich zu früh zu viel zu erhoffen. Mittlerweile hatte sie verstanden, wie sehr Lizzies Welt durch ihren Weggang zerrissen worden war.
Als Mamah Edwin geheiratet und Lizzie ins Haus geholt hatte, hatte Lizzie es genossen, die exzentrische Tante zu sein, die im Untergeschoss wohnte. Das war lange vorbei. Aus Rücksicht auf die neue Mrs. Cheney war sie aus ihrer Wohnung im Untergeschoss ausgezogen. Eine alleinstehende, berufstätige Frau wie Lizzie konnte ihre gesellschaftliche Stellung beibehalten, auch wenn sie keinem größeren Haushalt angehörte; alte Freunde würden sie immer noch zu ihren Dinnerpartys einladen. Und von den Kindern würde sie stets vergöttert werden. Doch Mamah konnte nicht in Abrede stellen, was offensichtlich war: Etwas war für ihre Schwester unwiederbringlich verlorengegangen.
Als Mamah und die Kinder zwei Stunden später wieder vom Fluss zurückkamen, ließ das Durcheinander in der Nähe des Stalls die Kinder losrennen. Sie eilte ihnen nach durch die Stalltür.
»Wir haben ein Fohlen!«, rief Tom, als sie in die Nähe der Box kamen.
Im Stroh lag ein Stutfohlen. Die Mutter leckte ihm Augen und Nüstern sauber. Tom stand in der Box in der Ecke. Siesahen zu, wie das Fohlen schwankend auf die Beine kam und die Milch seiner Mutter suchte.
»Ich hatte nichts zu tun«, sagte er. Er tätschelte der Stute das Hinterteil. »Die Mama hat für alles gesorgt.«
Mamah stand dicht neben John und Martha an der Boxentür. Mamah genoss ihre Nähe. Der Duft ihrer erhitzten, kleinen Körper, der sich mit dem Geruch des Heus vermischte, war tatsächlich süß. Sie sah lange mit ihnen zu, ehe sie ins Haus zurückging.
In der Küche erschrak sie, als sie Gertrude weinen sah.
»Ich glaube, wir sollten wieder gehen«, sagte Gertrude und wischte sich mit der Schürze über die Augen. »Es geht nicht so gut.«
»Haben Sie Heimweh?«, fragte Mamah.
»Ja. In Chicago geht es besser.«
»Mögen Sie Ihre Arbeit hier?«
»Ja«, sagte Gertrude. »Das ist nicht das Problem.«
»Warum fahren Sie dann nicht nächstes Wochenende nach Chicago? Es ist nicht schwierig. Julian war ein paarmal wieder dort, warum sollten Sie nicht auch hinfahren?« Mamah legte Gertrude die Hand auf die Schulter. »Wir finden, Sie leisten hier wundervolle Arbeit. Und wir würden uns sehr freuen, wenn Sie blieben.«
Die Frau zuckte die Schultern. »Danke, Madam.«
In dieser Nacht kletterte Mamah zu Martha ins Bett. John hatte Lucky zu sich unter die Decke genommen.
»John, bist du wach?«, fragte Mamah.
»Ja.«
»Martha?«
»Mhm.«
»Ich wollte euch etwas fragen. Habt ihr manchmal Heimweh, wenn ihr hier seid?«
Ein langes Schweigen entstand.
»Mhm«, sagte Martha schließlich.
»Ich weiß, dass es euch schwerfallen muss, jeden Sommer eure Freunde zurückzulassen, wenn ihr hierherkommt.« Johns Stimme ertönte durch die Dunkelheit. »Hast du nie Heimweh nach Oak Park?«
Die Frage traf sie unerwartet. Sie wusste, wonach er fragte. Vermisst du uns denn nie?
»Es vergeht kein Tag, ohne dass ich euch vermisse. Und an manchen Tagen… nun, da wünsche ich mir etwas, das in diesem Augenblick einfach nicht sein kann. Aber ich trage euch beide die ganze Zeit in meinem Herzen. Es ist komisch – es ist, als hätte ich in mir einen kleinen Raum, zu dem ich gehen kann, und dort seid ihr. Das macht mich so ruhig, wie man nur sein kann.«
Danach sagte niemand mehr etwas. Das einzige Geräusch im Zimmer war das Schnaufen des Hundes, mit dem er einund ausatmete.
Kapitel 51
»Ich frage mich immer mehr, ob Else vielleicht aus Berlin weggegangen ist«, sagte Mamah von der Essecke aus zu Frank, während sie den Schmutz von Marthas Stiefeln in einen Abfallbehälter kratzte. Ihre Gedanken waren bei Else, seit die Ermordung des österreichischen Thronfolgers die Schlagzeilen bestimmte. Mamah verschlang den Dodgeville Chronicle auf der Suche nach den spärlichen internationalen Nachrichten, die diese Zeitung gelegentlich druckte, doch sie musste warten, bis Frank die Zeitungen aus Chicago nach Hause brachte, um sich über die neuesten Entwicklungenin dieser europäischen Krise zu informieren. Die
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