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Kein Blick zurueck

Kein Blick zurueck

Titel: Kein Blick zurueck
Autoren: Nancy Horan
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natürlich, doch sie wusste, er hätte es sein können. Es amüsierte sie, dass er im Wald häufig wie ein Hund sein »Revier markierte«, sobald er einen möglichen Bauplatz in Augenschein nahm.
    »Ich passe nur auf, meine Liebe«, hatte er zurückgerufen. Gertrude hatte Sandwiches vorbereitet, die ausschließlich mit dicken Käsescheiben belegt waren. Frank biss in eineshinein und runzelte die Stirn. »Sie muss Comics gelesen haben, als sie die zubereitet hat.«
    »Ah, aber es gibt ein Dessert«, sagte Mamah. Sie packte die Kekse aus, köstlich aussehende Dinger mit Pecannüssen darin. Sie aßen sie bis auf den letzten Krümel auf.
    »Blauer Enzian«, sagte sie nach einer Weile und spähte durch ihre Hornbrille auf eine niedrigwachsende Blume dicht neben der Decke.
    »Trugst du eigentlich die ganze Zeit eine Brille, als ich mich damals in dich verliebt habe?«
    »Ich glaube nicht.«
    Er streckte die Hand aus und nahm sie ihr ab. »Weißt du, wenn du deine Augäpfel trainieren würdest, würdest du das Ding gar nicht brauchen.«
    Sie lachte ihr melodiöses Kichern, das in ein herzhaftes Lachen überging. »Du bist anfällig für die albernsten Ideen, habe ich dir das schon gesagt?«
    »Und diese Stiefel sind mit Sicherheit eine jüngere Errungenschaft«, sagte er. »Ich bedaure es, sagen zu müssen, dass ich selbst dir diese verdammten Dinger gekauft habe. Früher hast du immer die zierlichsten Lederstiefelchen getragen.« Er löste die Schnürsenkel und zog sie ihr aus. »Und schau dir diese Socken an. Wo sind wir hier, auf der Krim?« Er zog ihr auch die dicken Baumwollstrümpfe aus. Er ging auf die Knie und rutschte hinter ihren Rücken und knöpfte erst ihre locker sitzende Bluse, dann ihr Unterhemd auf. Mamah lächelte zu ihm auf.
    »So ist es gut«, sagte er und nahm ihr den verbeulten Strohhut ab. Was er sah, war dunkelbraunes, von silbernen Strähnen durchzogenes Haar. Eine fünfundvierzigjährige Frau, die halb nackt unter der gnadenlosen Sonne saß. Und dennoch, mein Gott, wie wunderschön sie war!
    Er streckte sie auf der Decke aus. Er sah einen Augenblickzum Himmel. Er hatte beinahe die Farbe von Enzian, war so weit und blau, wie man sich nur vorstellen konnte. Der Wind strich durch das hohe Gras und verursachte ein plätscherndes Geräusch wie von Wellen.
    Frank schlägt die Augen auf. Überall um sein Bett sieht er verunstaltete Gegenstände, die nach dem Brand übrig geblieben sind – ein aufgerollter Teppich, der nach Rauch stinkt, die zwei Sessel, auf denen sie vor dem Kamin saßen, denen beiden jetzt die Beine fehlen. Als er die Augen wieder schließt, ist die Erinnerung verschwunden. Was er nicht weiß, ist, dass es ihm nicht gelingen wird, sie so wieder auferstehen zu lassen. Er wird es versuchen. Er wird sich sagen, sie hat gerne gescherzt. Sie hatte ein wunderbares Lachen. Doch er wird es nicht mehr hören können, für lange Zeit nicht.
    Das Gefühl der Taubheit, das ihn durch Mamahs Begräbnis getragen hat – duch die Begräbnisse von David und Ernest, durch die furchtbaren Trauerszenen, als die Familie Tom Brunkers und Emil Brodelles Verlobte kamen, um ihre Leichen nach Hause zu holen –, hat ihn verlassen. Jetzt gibt es nur noch zwei Verfassungen: den Schmerz und, wenn es ihm gelingt zu schlafen, das Fehlen von Schmerz. Es ist jetzt zwei Wochen her, seit er zu der Zerstörung Taliesins heimgekehrt ist. Wenn er nicht schlafen kann, steht er mitten in der Nacht auf und setzt sich draußen in die Dunkelheit. Die Erinnerung an den Geruch des Todes kann ihn jeden Moment überfallen, ihm in die Nase steigen, ihm Übelkeit verursachen. Sein Rücken und sein Nacken sind voller Pusteln. Er ist abgemagert und ruhelos. Selbst sein Herzschlag hat sich verändert. Er wird unvermittelt heftig, pocht gegen seine Rippen und rast minutenlang. Das Wutgewitter, dasihn veranlasst hat, diesen Brief zu schreiben, ist in seinem Innern zu steinhartem Kummer geschrumpft.
    Er stellt sich die Frage nach dem Warum: Warum eine so anständige Frau, die in ihrem Leben nur Gutes tun wollte? Warum jetzt, nach so vielen Kämpfen, als das Leben, nach dem sie sich sehnten – zusammen – schließlich vor ihnen lag?
    Er findet keine Antworten. Er fragt sich, ob alldem eine kosmische Logik zugrunde liegt, dass jene, die am höchsten aufragen, auch am ehesten vom Blitz getroffen werden. Doch er wischt diesen Gedanken beiseite. An ihn zu glauben wäre ebenso falsch wie der Glaube an göttliche Vergeltung. Nein, es war die
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