Kein Blick zurueck
in meiner Absicht, Dich dazu zu verleiten, Dich zu »befreien«. Die ganze Zeit hast Du mir gesagt, Freiheit sei nicht etwas, das dir von jemand anderem gewährt werden könne. Es ist etwas, das in Dir ist, ein Zustand, wie Du sein möchtest.
Du hast über Deine Sehnsucht gesprochen, diesen Zustand zu erreichen – dieses Geschenk –, das Dein Herz zum Singen bringt. Falls dieser Zustand darin besteht, zu schreiben, wie Du in der Vergangenheit angedeutet hast, könntest Du dann vielleicht in Europa die nötige Inspiration finden, um damit zu beginnen? Denkedarüber nach, ob Du Dich mir nicht für ein, zwei Monate anschließen willst, nicht als jemand, der mir folgt, sondern als eine verwandte Seele bei ihrem eigenen spirituellen Abenteuer, der Suche nach Wahrheit.
Ich plane, in Berlin zu bleiben, solange es nötig ist, um die Folio-Zeichnungen für Wasmuth zu vervollständigen und sicherzustellen, dass die Druckqualität akzeptabel ist. Ich schätze, das wird zwischen neun Monaten und einem Jahr dauern. Ende September, Anfang Oktober verlasse ich Chicago und trete meine Reise an. Du weißt, wie ich empfinde. Ich tue nun den nächsten Schritt in der Absicht, mein Leben mit mir selbst in Einklang zu bringen, mit oder ohne Scheidung.
Meine größte Hoffnung ist, dass Du mitkommst. Ich werde mit Freuden warten, bis Deine Freundin ihr Baby zur Welt gebracht hat, damit Du Dich mir anschließen kannst.
Solltest Du Dich entscheiden, nicht zu kommen, werde ich weder den Stab über Dich brechen noch daraus schließen, dass Du Dich gegen die Freiheit entschieden hast. Ich empfinde höchste Achtung vor Dir.
Bitte schreibe mir ein paar Worte. Ich denke Stunde um Stunde an Dich.
Frank
Mamah strich über das schwere Papier und schnupperte daran. Den Rest des Tages trug sie den Brief in ihrem Baumwollmieder mit sich herum.
Danach klang ihr seine Stimme im Ohr. Am Freitag ging sie zum Telegrafenamt und kabelte ihm eine Nachricht.
Kapitel 14
»Bald«, sagte Mamah, wenn John sie fragte, wann sie wieder nach Hause zurückkehren würden. Der Junge war häufig ruhelos oder gelangweilt, da er mittlerweile ohne seine Spielkameraden auskommen musste, denn für Matties Kinder hatte die Schule wieder begonnen. Mamah lieh sich an der Mapleton-Schule Lehrbücher und begann, die Kinder morgens selbst zu unterrichten.
Die Kinder hatten sich im Laufe des Sommers beinahe von Tag zu Tag verändert. Mamah war dankbar für diese Zeit allein mit John und Martha. Sie hatte die befriedigende Intimität wiederentdeckt, sie zu baden und ihnen zu essen zu geben, Rituale, die sie bereits vor langer Zeit an Louise abgegeben hatte. Marthas winzige Füßchen, so perfekte Miniaturausgaben ihrer eigenen, waren inzwischen keine Babyfüßchen mehr. Die Sohlen waren vom barfüßigen Spielen im Freien ganz dick geworden.
John, der von Anfang an Edwin ähnlich gesehen hatte, hatte mittlerweile den krummbeinigen Gang, der Mamah an ihren Vater erinnerte. Manchmal wurde er grob oder spielte den starken Mann. Nachts war er jedoch noch immer derselbe, der er, seit er sprechen konnte, gewesen war. Er kroch zu Martha und ihr ins Bett und zupfte sie am Ärmel. Das war ein Signal zwischen ihnen und bedeutete »eine Geschichte«. Und diese Geschichte begann immer gleich.
»Es waren einmal ein Junge mit dem Namen John und ein Pferd mit dem Namen Ruben und ein Hund mit dem Namen Tootie.« Die Geschichten hatten ganz einfach angefangen, als er drei oder vier gewesen war. Im Laufe der Zeit waren sie ins Fantastische angewachsen, waren von Schiffskapitänen, Sultanen und durchgegangenen Pferden bevölkert und endeten immer damit, dass John als Retter auftrat.Eines Abends in Boulder wurde klar, dass auch Martha diese Geschichten verstand. Und Mamah fügte ein »und ein kleines Mädchen mit dem Namen Martha« hinzu.
»Neeeiiin«, hatte John aufgeheult. Die Anwesenheit seiner Schwester in dem Fantasiereich, das er mit seiner Mutter teilte, war zu viel für ihn. Danach begann sie, Martha eine eigene Geschichte zu erzählen.
Vielleicht waren die Nerven der Kinder genauso gespannt wie ihre eigenen, dachte sie. Edwin verlangte in seinen letzten Briefen zu wissen, was sie plane, damit John wieder zur Schule gehen konnte, und wann sie vorhabe, nach Hause zu kommen. Sie glaubte, sich entschieden zu haben, war sich aber noch nicht restlos sicher. Wochenlang hatte sich eine Spannung aufgebaut, und jetzt änderte sich ihre Haltung von einem Augenblick auf den anderen. Ganz so, als
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