Kein Blick zurueck
das sie im Seminar eingesteckt hatte, um den Brief zu schreiben. Ihre Schuhe waren durchgelaufen, und bis zum Winter würde sie ein neues Paar brauchen, obwohl sie nicht die geringste Idee hatte, woher das Geld dafür kommen sollte. Dankenswerterweise hatten ihre Wintersachen – zwei Wollkostüme und ein guter Mantel – sich gehalten. Niemand, der sie sah, würde vermuten, dass sie fadenscheinige Unterwäsche trug.
Ein spartanisches Leben zu führen war nicht so schwer; Mamahnahm es bereitwillig auf sich. Zum ersten Mal seit Port Huron stand sie auf eigenen Füßen. Sie freute sich, wieder einen festen Arbeitstag zu haben und eifrige junge Frauen zu unterrichten, die selbst Lehrerinnen werden wollten. Weit beunruhigender als die Armut waren die Panikattacken, die sie morgens heimsuchten, wenn sie sich beim Erwachen in ihrem Pensionszimmer wiederfand.
Dann klopfte ihr Herz so wild, dass ihr angst und bange wurde. War Frank nach Oak Park zurückgekehrt und hatte festgestellt, wie aussichtslos ihre Erwartungen waren? War er in die offenen Arme seiner Kinder zurückgekehrt und bedauerte umso mehr seine Abwesenheit? Mamah gab sich Mühe, sich zu beruhigen, wenn das Entsetzen sie überfiel. Sie hatte ihm vor zwei Jahren misstraut, als er Catherine nachgegeben und ihr das Jahr zugestanden hatte, um das sie gebeten hatte. Doch damals war Frank zu Mamah zurückgekehrt.
Welche Sicherheiten hatte sie, dass er dieses Mal zu ihr zurückkehren würde? Und falls er es nicht tat, wie könnte sie ihm das vorwerfen? Sie bezweifelte nicht, dass er sie liebte. Sie war sich sicher, dass er das tat. Doch auch er war nur ein Mensch.
In ihrer Panik überschlug sie den Preis für das, was sie angerichtet hatten. Zwei Familien auseinandergerissen. Die Kinder grausam verletzt. Franks Geschäft zerstört. Ihr guter Ruf so gründlich ruiniert, dass ihre Aussichten, im Falle einer Rückkehr selbst für ihren Unterhalt zu sorgen, gleich null waren. Und das alles wofür? Vielleicht für nichts. Vielleicht war in Franks Gedanken bereits alles vorbei. Vielleicht empfand er das Gleiche, was Mamah allmählich empfand – dass der Preis für ihre Beziehung zu hoch war, um weiterhin gezahlt zu werden.
Sie machte Frank keine Vorwürfe. Es war ein selbst auferlegtesExil. Warum habe ich mich so sehr gezwungen gefühlt zu bleiben?
Sie stand von ihrem Schreibtisch auf, kniete sich neben das Bett und legte die Stirn auf die Bettdecke. Sie war im Beten nicht mehr geübt. Das einzige Wort, das ihr in den Sinn kam, war »bitte«.
Lange Zeit hatte sie geglaubt, dass eine Gärtnerin betete, wenn sie ein Loch grub, dass ein Zimmermann betete, wenn er einen Nagel einschlug. Jetzt erschien ihr diese Vorstellung als die Haltung eines naiven und glücklichen Menschen. In der Vergangenheit hatte sie es falsch gefunden, angesichts all der Tragödien in der Welt darum zu bitten, dass ihre eigenen Probleme gelöst würden. Doch jetzt tat sie es.
Als ihr ein Gebet einfiel, war sie nicht überrascht, dass es die Form eines Gedichtes annahm, das sie vor langer Zeit gelernt hatte.
Schreit ich durch das finster-große Wolkenmeer
Gebeugt, für eine Zeit; die Lampe Gottes
Nah an die Brust gedrückt; sein Glanz, früh oder spät
Durchdringt den Schleier: Eines Tags tret ich empor.
Als sie schließlich aufstand, hatte sie steife Knie. Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch, um den Brief zu schreiben, den zu formulieren sie so sehr gezögert hatte. Die Sätze nahmen auf dem Papier so rasch Gestalt an, dass ihr war, als hätten sie in ihren Fingern nur darauf gewartet, endlich befreit zu werden.
Ellen Key, meine sehr verehrte Dame,
Ich wollte Ihnen schon vor einiger Zeit schreiben, um Ihnen zu sagen, wie wichtig Sie in meinem Leben sind. Bevor ich in Nancy Ihre Vorlesung hörte, waren Sie mir auf der gedruckten Seite alseine wahre Freundin erschienen. Tatsächlich haben Sie auf mein Leben größeren Einfluss gewonnen als irgendjemand sonst, mit Ausnahme von Frank Lloyd Wright. Sie können sich nicht vorstellen, welches Licht ihre Worte in den dunklen Tagen vor unserer Begegnung auf mich geworfen haben. Niemals werde ich die Helligkeit Ihrer Fackel und die Wärme Ihrer Kameradschaft vergessen, als ich darum kämpfen musste, einen Weg zu gehen, der, wie ich inzwischen fürchten muss, allein der meine ist.
Um die Wahrheit zu sagen, ich kämpfe immer noch. Ich weiß nicht, ob ich die erforderliche Kraft aufbringen werde, um diesen Weg zu einem freien und offenen
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