Kein Blick zurueck
schlecht von dieser Mutter gedacht hatte. Ein Kind so sehr zu lieben, dass man bereit war, es gehen zu lassen – der Gedanke war überwältigend für sie. In Deutschland war dieses Mädchen zur Armut verdammt. In Amerika hatte sie eine Chance. Sie konnte sich neu erfinden.
Mamah fühlte sich besser, wenn sie von dieser Tätigkeit zurückkam. Es war tröstlich, Menschen zu helfen, ihre Hoffnungen in den Äther zu schicken, trotz der geringen Chance, dass etwas Gutes dabei herauskam. Und manchmal kam tatsächlich etwas Gutes dabei heraus. Gelegentlich antworteten die Verwandten und boten an, die Absender zu unterstützen. Ein Mann, ein Maurer, fand in Chicago eine katholische Pfarrei, wo man willens war, ihn für den Bau einer neuen Kirche einzustellen.
Sie begann, sich auf diese Sonntage zu freuen. Der muffige Geruch der Unterkunft wuchs ihr ans Herz, und der gelegentliche Betrunkene, der in den Rinnstein urinierte, brachte sie nicht mehr aus der Fassung. Sie kam nach Wedding und war gespannt, was der Tag bringen mochte.
Am Sonntagnachmittag kam Mamah so erschöpft nach Hause, dass sie ohne Abendessen ins Bett fiel. Als sie erwachte, stellte sie fest, dass sie noch immer ihre Straßenkleidung trug und dass sie beinahe zwölf Stunden geschlafen hatte. Sie stand auf und trat ans Fenster. Die Dämmerung brach gerade an, und die Sonne schickte rosige Strahlen in den Himmel, der aussah, als ob er gleich Regen schicken wollte. Während sie zusah, wie der Tag anbrach, fühlte sie sich merkwürdighoffnungsvoll. Sie hatte die Unsicherheit so satt, war der Angst und der Reue so müde.
Sie vermisste Frank. Er war kein perfekter Mann, aber sie liebte ihn so sehr, dass sie kaum wusste, wie ihr Körper all diese Liebe fassen konnte. Eines Tages, dessen war sie sich beinahe sicher, würden sie auf all dies zurückblicken und sagen: Ja, es war eine kraftraubende Zeit, aber sie ist vorüber, und sie hat uns stärker gemacht.
Es gab jedoch noch eine andere Möglichkeit, wie diese Sache ausgehen konnte, und sie zwang sich, auch diese in Betracht zu ziehen. Es gab keine Garantien. Vielleicht hatte Frank sich schon von ihr verabschiedet. Möglicherweise trieb sie auf einer Eisscholle dahin und wusste es nur noch nicht.
Was würde sie tun, wenn es so wäre? Edwin hatte auf ihre Bitte um Scheidung nicht reagiert. Wenn er sie wieder aufnähme, wie Lizzie gesagt hatte, würde sie dann zu ihm zurückkehren? Sie versuchte, es sich vorzustellen, und wusste auf der Stelle, dass sie, ungeachtet des Grads ihrer Verzweiflung, niemals zu Ed zurückkehren würde. Dieses Wissen bot ihr einen merkwürdigen Trost. Sie hatte ihn nicht nur Franks wegen verlassen, sondern weil alles an ihrer Ehe falsch gewesen war.
Bevor Mamah nach Deutschland gereist war, hatte Mattie zu ihr gesagt: »Was wirst du tun, wenn Frank zu seiner Frau zurückkehrt? Dann stehst du mit leeren Händen da.« Doch Mamah hatte inzwischen das Gefühl, falls es dazu käme, hätte sie mehr als nichts. Sie hatte, was immer es war, das sie in sich hatte, das sie überleben ließ. Die vergangenen Monate hatten sie auf ihren innersten Kern reduziert. Alles andere, schien es, war einfach von ihr abgefallen.
Im Gegensatz zu Edwin hatte sie nie daran geglaubt, dass ein Mensch, wenn er sich nur verhielt, als wäre er glücklich, auch tatsächlich glücklich würde. Doch an diesem Punktschien es sinnlos, sich weiter an ihren Kummer zu klammern. Was nützte es, wenn sie sich weiterhin grämte, als wäre dies angesichts ihrer Situation die einzig angemessene Regung?
Kinder brauchen glückliche Menschen um sich. Allein dieser Gedanke war Grund genug, all den Schmerz loszulassen, den sie festgehalten hatte. In diesem Moment beschloss sie, dass sie, was immer auch kommen sollte, John und Martha nach ihrer Rückkehr bei sich haben wollte – und zwar solange sie aushandeln, erbetteln oder stehlen konnte.
Als Weihnachten näher rückte, kaufte Mamah bei den Händlern, die auf der Straße ihre Buden aufbauten, Geschenke für die Kinder. Für John wählte sie einen Satz bemalter Soldaten und für Martha einen kleinen Saphirring, der zu ihren Augen passte. Martha packte diese Geschenke mit weiteren in Geschenkpapier eingewickelten Spielsachen in ein Päckchen, das sie Mitte November abschickte.
Im Dezember stellte Frau Böhm einen hoch aufragenden Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer und hängte im ganzen Haus Girlanden aus Tannenzweigen und vergoldete Nüsse auf. Drei Wochen lang wurde Mamah von
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