Kein Blick zurueck
zurückgelassen hatte, hatte Mamah sich auf die Einsamkeit gefreut, die vor ihr lag, denn die Arbeit für Ellen erforderte mehr als Zielstrebigkeit. Sie erforderte Selbstaufgabe. Als sie sich in Nancy in Love and Marriage vertieft hatte, hatte sie sich nach der Arbeit an diesem Buch so sehr in ihrer Seele gestärkt gefühlt wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Wenn sie anderen Frauen zu einer ebenso intensiven Erkenntnis verhelfen könnte, wie sie selbst sie erfahren hatte,wenn es ihr gelang, Ellen Key den amerikanischen Frauen nahezubringen, wer wusste, was dann passieren mochte? Möglicherweise käme es zu einer Revolution innerhalb der Frauenbewegung. Bei der Übertragung vom Schwedischen ins Englische an den feinen Nuancen der Sätze und Argumente zu feilen würde ihr jede Unze Konzentration abverlangen, die sie aufbringen konnte. Dazu war es erforderlich, allein zu sein. Mehr als alles andere wünschte sie sich die ruhige Selbstgewissheit zurück, die sie in Nancy empfunden hatte.
Doch was im September klar gewesen war, war im Oktober verschwommen. Nachdem sie an sechs von sieben Wochentagen von sieben Uhr morgens bis ein Uhr nachmittags in dem Mädchenseminar gearbeitet hatte, kehrte sie häufig in ihr Zimmer zurück, um bis neun oder zehn Uhr abends Schwedisch zu lernen. Bei der Übersetzung von Die Frauenbewegung entdeckte Mamah wenig von dem Aufregenden, auf das sie in den früheren Texten gestoßen war.
Sie war erschöpft, zerstreut. Und zum ersten Mal seit Monaten ertappte sie sich dabei, dass sie die Reihe dieser Entscheidungen in Frage stellte, die sie in ihr winziges Zimmerchen in der Pension Gottschalk geführt hatten. Die Sehnsucht nach ihren Kindern war so groß, dass sie es kaum aushalten konnte. Nachts lag sie im Bett und versuchte, sich genau an Marthas Babygeruch zu erinnern. Wie hatte sie gerochen? Nach Talkumpuder mit Fliederduft? Nach der Milch in ihrem Atem? Es gelang Mamah nicht, diese Geruchsmischung heraufzubeschwören, die sie so sehr geliebt hatte, doch sie konnte beinahe Marthas Geplapper hören, das von ihrer Krippe über den Flur drang.
Und John mit vier. Der immer wieder mit seiner Sammeldose von draußen hereinkam. »Ich bin der Papa von diesem Wurm«, hatte er einmal verkündet und diesen Wurm in seinemWagen zu einem Spaziergang mitgenommen. Ein anderes Mal war er zu ihr ins Wohnzimmer gekommen, hatte sich an sie gelehnt und gesagt: »Ich liebe dich so sehr, wie eine Bombe explodieren könnte.«
Nachts in Berlin lag sie wach, lachte und weinte.
Wenn der Schlaf schließlich kam, erschienen die Kinder in ihren Träumen. Der Wirbel aus dunklen Haaren in Johns Nacken. Das wie der Kleine Bär geformte Muster aus Leberflecken auf seinem Rücken. Sie sah Marthas kleine Finger um einen der ihren geschlungen, das zarte Grübchen auf ihrem Kinn, die tiefblauen Augen. Wenn sie erwachte, empfand sie bittere Reue. Manchmal auch Entsetzen. Eines Nachts sah sie John auf ein Wespennest klopfen, während sie durch ein Fenster zu ihm hinabsah, das sie nicht öffnen konnte. Ein besonders schrecklicher Albtraum überfiel sie zwei Nächte hintereinander. John stand vor ihr und sagte: »Ein Mann vergräbt Martha im Sand.« Als Mamah im Traum versuchte, von ihrem Stuhl aufzustehen, konnte sie ihre Glieder nicht bewegen.
Sie begann, lange Spaziergänge zu unternehmen, ging durch den Zoologischen Garten, der sich wie ein Wunderland zwischen ihrer Pension und dem Herzen Berlins erstreckte. Sie stand inmitten der vielen Kinder vor den Tierkäfigen und stellte sich John und Martha vor, die atemlos die drolligen Tierbehausungen betrachteten, die Pelikane, die in einem japanischen Tempel untergebracht waren, und die Antilopen in einem maurischen, mit bunten Majolikakacheln geschmückten Gebäude.
Als sie Edwin schrieb mit der Bitte, Louise zu erlauben, die Kinder auf einen Besuch zu begleiten, antwortete er mit einem knappen Nein. Sein Brief katapultierte sie in eine Abwärtsspirale, doch es war Lizzies Brief Ende September, der sie endgültig in einen dunklen Abgrund stürzte.
Liebste Mamah,
Ich schreibe Dir heute und hoffe von Herzen, dass das, was ich zu sagen habe, Dir helfen wird, die Wahrheit zu erkennen.
Frank Wright ist letzte Woche in seinem üblichen Habitus nach Oak Park zurückgekehrt und hat ein Schauspiel aus sich gemacht. Wie mir zugetragen wurde, hat er den armen William Martin verpflichtet, ihn und seine Habseligkeiten vom Bahnhof abzuholen, dann fuhr er wie ein Politiker am 4. Juli
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