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Kein Blick zurueck

Kein Blick zurueck

Titel: Kein Blick zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Horan
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Leben mit der einen wahren Liebe meines Lebens weiterzugehen. Gerade jetzt habe ich das Gefühl, dass der Preis, wenn ich in ihn weiter verfolge, für alle Betroffenen zu groß sein könnte. Nur eines ist sicher. Ihre Worte werden mir die Richtung weisen und mir helfen, den richtigen Weg zu finden.
    Ihre Sie verehrende Schülerin,
    Mamah Bouton Borthwick
    28. Oktober 1910
Kapitel 30
    Am Montagmorgen packte die Direktorin auf dem Flur vor ihrem Klassenzimmer sie am Handgelenk und hielt sie fest. Ende der Scharade, dachte Mamah. Irgendetwas an ihrem Verhalten hatte bei der Frau zweifellos Verdacht erregt. Unter dem forschenden Blick der Direktorin verspürte sie ein Kribbeln im Bauch. »Gehören Sie einer Kirche an?«, fragte sie. Mamah holte kurz Luft. »Ich – «
    »Wenn nicht, dann hätte meine Kirche auf jeden Fall Verwendung für Ihre Dienste. Wir schicken an Sonntagnachmittagen Freiwillige in eine Unterkunft nach Wedding.«»Was tun sie dort?« Mamah merkte, wie ihre Anspannung nachließ.
    Die Direktorin zuckte die Schultern. »Was immer wir können.«
    »Brauchen Sie einen Übersetzer?«
    »Ja.« Die Stimme der Frau wurde um ein Grad wärmer. »Um Briefe zu schreiben. Es handelt sich um Fabrikarbeiter, wissen Sie. Arme Leute. Sie alle haben lange verlorene Cousins in Amerika. Dorthin wollen sie.« Sie lachte auf. »Sie glauben, alle ihre Probleme seien gelöst, wenn sie es nach Minnesota schafften.«
    Ein Ei. Ein Stück Band. Ein besticktes Taschentuch. Pfeffernüsse. Die Dinge, die sie ihr brachten, waren keine Geschenke, begriff Mamah, sondern Tauschobjekte für ihre Dienste. Bis Mitte November hatte es sich in der Straße herumgesprochen, dass es in einem Haus in der Nachbarschaft eine Amerikanerin gab, die Briefe übersetzte. Gewöhnlich war der enge Eingangsflur bei ihrer Ankunft voller Menschen. Ganze Familien kamen und debattierten, was in ihren Briefen stehen sollte, und verzehrten das mitgebrachte Essen. Rotznasige Kleinkinder stolperten durcheinander. Husten zerhackte die Luft.
    Sie alle wollten ihre Briefe auf Englisch geschrieben haben, obwohl ihre Empfänger sie auch auf Deutsch hätten verstehen können. Mamah verstand, dass viele dieser Menschen in ihrer Muttersprache nicht schreiben konnten und es nicht zugeben wollten. Stand eine Frau von dem Tisch auf, nahm eine andere ihren Platz ein. Häufig hatten sie ein Mädchen von vierzehn oder fünfzehn im Schlepptau. Nach der ersten Woche erkannte Mamah das Muster. Das waren die »Haushaltshilfen«, die Amerikanerinnen einer bestimmten Schicht allerlei ermöglichten: saubere Häuser,Mahlzeiten, Beaufsichtigung der Kinder, während sie sich in ihren Clubs trafen. Die Mädchen schliefen in Kammern auf dem Dachboden und schickten ihren ganzen Verdienst nach Hause.
    »Wisconsin«, sagte die bäuerliche Frau, die neben ihrer Tochter saß.
    »Wo in Wisconsin, Frau Westergren? Haben Sie eine Adresse?«
    Die Frau nahm Mamahs Stift in ihre rauen, knotigen Finger und malte langsam sechs Buchstaben. » R - A - C - I - N - E .«
    »Ist das alles, was Sie haben?« Mamah sprach deutsch. Gerade hatte sie einen Brief an den Bruder dieser Frau verfasst, in dem sie anfragte, ob ihre Tochter als Kindermädchen oder Dienstmagd in seinem Haus arbeiten dürfte.
    »Ja.«
    »Aber Sie sagen, Sie haben ihren Bruder seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Woher wissen Sie, ob er noch lebt? Sie können sie nicht einfach hinüberschicken, ohne das zu wissen.«
    Die Frau schürzte die Lippen. Mamah begriff, dass sie eine Grenze überschritten hatte. Sie sah sich das Mädchen genauer an. Mit fünfzehn Jahren und nach einer Schulzeit von lediglich fünf Jahren war dieses Mädchen bleich von der Arbeit als Spulerin in einer Fabrik. Das Mädchen starrte bedrückt auf seinen Schoß. Dass eine Mutter ihr Kind zweitausend Meilen über das Meer nach Wisconsin schicken wollte, auf die Farm eines Bruders, den sie gar nicht mehr kannte, war ein Gradmesser für die Verzweiflung dieser Frau. Oder aber für ihre Hoffnung.
    »Dann schicken wir diesen Brief an Mr. Adolph Westergren in Racine, Wisconsin«, sagte Mamah schließlich, als offensichtlich wurde, dass die Frau kein Wort mehr sagen würde. »Und sehen einfach, was passiert.«
    Am nächsten Tag erkundigte sie sich bei der Direktorin, ob sie Frau Westergren kenne. »Ja, ich weiß, wer sie ist«, sagte sie. »Und ihre Tochter.« Sie warf Mamah einen wissenden Blick zu. »Unehelich«, sagte sie leise.
    Mamah schämte sich, dass sie

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