Kein böser Traum
Strafe – reden wir nicht lang drum rum – die endet nie. Stimmt’s, Mr. Vespa?«
»Was wollen Sie?«
Larue stand auf. »Es tut Ihnen so verdammt weh.« Seine Stimme war plötzlich sanft, einfühlsam wie eine Liebkosung. »Sie sollen alles erfahren, Mr. Vespa. Ich möchte, dass Sie die Wahrheit wissen. Es muss endlich ein Ende haben. Heute. Auf die eine oder andere Art. Ich will mein Leben leben. Ich möchte nicht immer über die Schulter sehen müssen. Deshalb erzähle ich Ihnen, was ich weiß. Ich werde Ihnen alles sagen. Und danach können Sie entscheiden, was Sie tun müssen.«
»Hatten Sie nicht gesagt, dass Sie die Schüsse abgefeuert haben?«
Larue ging nicht weiter darauf ein. »Erinnern Sie sich an Lieutenant Gordon MacKenzie?«
Die Frage traf Vespa unerwartet. »Den Sicherheitsbeamten? Natürlich.«
»Er hat mich im Gefängnis besucht.«
»Wann?«
»Vor drei Monaten.«
»Warum?«
Larue lächelte. »Ging wieder mal um die Geschichte mit dem
Gleichgewicht. Die Dinge sollten zurechtgerückt werden. Sie nennen es Yin und Yang. MacKenzie hat von Gott gesprochen.«
»Verstehe ich nicht.«
»Gordon MacKenzie hatte den Tod vor Augen.« Larue legte die Hand auf Vespas Schulter. »Und bevor er starb, hatte er das dringende Bedürfnis, seine Sünden zu beichten.«
44
Die Pistole steckte in Graces Knöchelhalfter.
Sie ließ den Motor an. Der Asiate saß neben ihr. »Die Straße runter und dann nach links.«
Grace hatte Angst, das war nur natürlich. Und dennoch war in ihr eine seltsame Ruhe. Sie fühlte sich, überlegte sie, wie im Auge des Orkans. Es geschah etwas. Und das gab ihr die Möglichkeit, Antworten zu finden. Sie versuchte, Prioritäten zu setzen.
Erstens: Bring ihn weit weg von den Kindern.
Das war ihr oberstes Gebot. Emma und Max waren gut aufgehoben. Die Lehrer blieben immer auf dem Schulgelände, bis alle Kinder abgeholt waren. Wenn sie nicht erschien, würden sie entnervt aufseufzen und die beiden ins Sekretariat bringen. Der alte Drachen, die Sekretärin Mrs. Dinsmont, würde angesichts der pflichtvergessenen Mutter genussvoll mit der Zunge schnalzen und die Kinder barsch anweisen, zu warten. Drei Monate zuvor hatte es schon einmal eine Unregelmäßigkeit gegeben. Grace war in einen Stau vor einer Baustelle geraten und hatte sich erheblich verspätet. Voller Schuldgefühle und mit der Vorstellung, fast wie bei einer Szene aus Oliver Twist, einen verzweifelten Max vorzufinden, war sie in die Schule gestürmt. Max jedoch hatte im Schulbüro gesessen und friedlich das Bild eines Dinosauriers ausgemalt. Er wäre am liebsten noch geblieben.
Mittlerweile war die Schule außer Sichtweite. »Biegen Sie nach rechts ab.«
Grace gehorchte.
Ihr Entführer, falls man ihn so nennen konnte, hatte gesagt, er würde sie zu Jack bringen. Sie wusste nicht, ob das stimmte, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er die Wahrheit sagte. Aber natürlich tat er das nicht aus purer Menschenliebe. Sie war gewarnt. Sie war ihm zu nahe gekommen. Er war gefährlich – und davon hatte sie nicht nur die Pistole in seinem Gürtel überzeugt. In seiner Nähe herrschte ein atmosphärisches Knistern, war die Luft wie elektrisch aufgeladen, so dass man ahnte, einfach spüren musste, dass dieser Mann überall nur verbrannte Erde zurückließ.
Dennoch war Grace verzweifelt entschlossen, abzuwarten, wohin das führte. Sie hatte ihre Waffe im Knöchelhalfter. Wenn sie es schlau anstellte, wenn sie vorsichtig war, konnte sie das Überraschungsmoment ausnutzen. Das immerhin war etwas. Vorerst würde sie alles mitmachen. Aber hatte sie überhaupt eine andere Wahl?
Was ihr Sorgen machte, war, wie sie die Waffe ziehen und handhaben sollte. Ließ sich die Pistole schnell und problemlos aus dem Halfter nehmen? Löste sich wirklich ein Schuss, sobald sie den Abzug bediente? Zielte man einfach und drückte ab? Und selbst wenn es ihr gelang, die Waffe rechtzeitig aus dem Halfter zu ziehen – was ihr angesichts der Aufmerksamkeit, mit der der Mann sie beobachtete, zweifelhaft erschien –, was sollte sie dann tun? Sie auf ihn richten und verlangen, dass er sie zu Jack brachte?
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das funktionierte.
Erschießen konnte sie ihn auch nicht. Fragen über Gut und Böse oder ob sie den Mut aufbringen würde abzudrücken, waren müßig. Dieser Mann war möglicherweise ihre einzige Verbindung zu Jack. Tötete sie ihn, was dann? Dann hatte sie die einzige konkrete Spur zu Jack vernichtet,
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