Kein böser Traum
dichter Qualm einfach nicht verflüchtigen wollten, hatte Vespa erlebt, dass selbst Cram hemmungslos weinen konnte.
Sie sahen gleichzeitig zu Wade Larue hinüber.
»Hast du überhaupt ein Wort mit ihm gesprochen?«, wollte Vespa wissen.
Cram schüttelte den Kopf. »Keine Silbe.«
»Er wirkt verdammt ruhig.«
Cram sagte nichts. Vespa entfernte sich in Richtung Larue. Cram blieb, wo er war. Larue drehte sich nicht um. Drei Meter vor Larue blieb Vespa stehen und sagte: »Sie wollten mich sprechen?«
Larue starrte weiterhin zur Brücke hinüber. »Wunderschöne Aussicht«, bemerkte er.
»Die zu bewundern, sind Sie nicht hier.«
Er zuckte die Schultern. »Bedeutet nicht, dass ich es nicht trotzdem genießen kann.«
Vespa wartete. Wade Larue drehte sich noch immer nicht um. »Sie haben gestanden.«
»Ja.«
»Aus ehrlicher Überzeugung?«, fragte Vespa.
»Zu dem Zeitpunkt? Nein.«
»Was heißt ›zu dem Zeitpunkt‹?«
»Sie wollen wissen, ob ich die beiden Schüsse damals abgefeuert habe.« Wade Larue wandte sich endlich Vespa zu und sah ihm direkt in die Augen. »Warum?«
»Ich will wissen, ob Sie meinen Jungen umgebracht haben.«
»Wie auch immer, ich habe ihn nicht erschossen.«
»Sie wissen, wie das gemeint war.«
»Darf ich Sie was fragen?«
Vespa wartete.
»Tun Sie das für sich? Oder für Ihren Sohn?«
Vespa dachte nach. »Nicht für mich.«
»Also für Ihren Sohn?«
»Er ist tot. Es nützt ihm nichts mehr.«
»Wem dann?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Für mich schon. Wenn es hier nicht um Sie oder um Ihren Sohn geht, warum dann dieser Wunsch nach Rache?«
»Es muss vollendet werden.«
Larue nickte.
»Die Welt muss im Gleichgewicht bleiben«, fuhr Vespa fort.
»Yin und Yang?«
»So was Ähnliches. Achtzehn Menschen sind gestorben. Jemand muss dafür bezahlen.«
»Sonst gerät die Welt aus den Fugen?«
»Ja.«
Larue zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Er bot Vespa eine Zigarette an. Vespa schüttelte den Kopf.
»Haben Sie an jenem Abend die beiden Schüsse abgefeuert?«, fragte Vespa.
»Ja.«
In diesem Augenblick fuhr Vespa aus der Haut. Es war sein Temperament. Er konnte in Sekundenbruchteilen von 0 auf 180 schalten. Adrenalin schoss durch seine Adern wie die nach oben
schnellende Quecksilbersäule eines Thermometers in einem Comicfilm. Er ballte die Faust und schlug sie Larue ins Gesicht. Larue knallte brutal auf den Rücken. Er setzte sich auf. Die Hand fuhr an seine Nase. Sie war blutig. Larue sah lächelnd zu Vespa auf. »Bringt sie das wieder ins Gleichgewicht?«
Vespa atmete schwer. »Ist ein Anfang.«
»Yin und Yang«, sagte Larue. »Die Theorie gefällt mir.« Er wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht. »Die Frage ist, ist dieser weltumspannende Balanceakt – generationenübergreifend?«
»Was zum Teufel soll das heißen?
Larue lächelte. Blut klebte an seinen Zähnen. »Schätze, das wissen Sie.«
»Ich bringe Sie um. Das wissen Sie.«
»Weil ich was Schlimmes getan habe? Wofür ich bezahlen muss?«
»Ja.«
Larue kam auf die Beine. »Und was ist mit Ihnen, Mr. Vespa?«
Vespa ballte die Fäuste, doch der Adrenalinschub verebbte.
»Sie haben Schlimmes getan. Haben Sie dafür bezahlt?« Larue neigte den Kopf leicht zur Seite. »Oder hat das Ihr Sohn für Sie besorgt?«
Vespa landete einen mächtigen Schwinger in Larues Magengrube. Larue sackte in die Knie. Vespas Faust traf als Nächstes den Kopf. Larue ging erneut zu Boden. Vespa trat ihm ins Gesicht. Larue lag jetzt flach auf dem Rücken. Vespa machte einen Schritt vorwärts. Blut tropfte aus Larues Mund, aber der Mann lachte noch immer. Tränen rannen nur bei Vespa, nicht bei Larue.
»Was gibt’s da zu lachen?«
»Ich war wie Sie. Ich wollte Rache.«
»Wofür?«
»Dafür, dass ich in dieser Zelle saß.«
»Das war nicht meine Schuld.«
Larue setzte sich auf. »Ja und nein.«
Vespa tat einen Schritt zurück. Er sah sich um. Cram beobachtete die Szene regungslos. »Sie sagten, Sie wollten reden.«
»Damit warte ich lieber, bis Sie sich an mir ausgetobt haben.«
»Sagen Sie mir jetzt, warum Sie angerufen haben.«
Wade Larue tastete mit der Hand über seinen Mund. Er wirkte beinahe glücklich, als er das Blut an seinen Fingern sah. »Ich wollte Rache. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr. Aber jetzt, heute, als ich rausgekommen bin, als ich plötzlich frei war … Da war’s vorbei. Ich habe fünfzehn Jahre im Gefängnis geschmort. Ich habe meine Strafe abgesessen. Ihre
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