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Kein böser Traum

Kein böser Traum

Titel: Kein böser Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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dass sie dieses Foto sämtlichen verkaufsfördernden Unterlagen beifügte, da es, wie er es ausdrückte, »ein Hit« sei. Widerwillig hatte sie sich diesem Wunsch gefügt. Auf der Bühne und im Film lag die Bedeutung von Aussehen und Ausstrahlung auf der Hand. Selbst Schriftsteller warben mit geschönten Hochglanzfotos und dem glühenden Blick der literarischen Entdeckung des Jahrhunderts. Graces Welt, die Malerei, war bisher immun gegen diesen Druck der Äußerlichkeiten gewesen, hatte die etwaige Schönheit des Künstlers oder der Künstlerin ignoriert – vielleicht weil das Physische in dieser Kunstform schon genug im Mittelpunkt stand.
    Diese Zeiten jedoch waren vorbei.
    Ein Künstler weiß die Bedeutung des Ästhetischen sehr wohl zu schätzen. Ästhetische Gesichtspunkte bewirken mehr als nur eine Veränderung der Wahrnehmung. Sie verändern die Wirklichkeit. Ein Beispiel dafür war die Tatsache, dass die TV-Teams nach dem Massaker von Boston niemals Graces Genesung so intensiv begleitet hätten, wäre sie dick und reizlos gewesen. Wäre sie physisch unansehnlich gewesen, wäre sie vermutlich nie in den Skandalblättern als »Wunder des Lebens«, »Unschuldsengel«, »Gebrochener Engel« bezeichnet worden. Ihr Bild war stets zusammen mit den Nachrichten über ihre Genesung erschienen. Die Presse – nein, vielmehr das ganze Land – verlangte ständig über ihren Gesundheitszustand informiert zu werden.
    Die Familien der Opfer besuchten sie am Krankenbett, verbrachten Zeit mit ihr, suchten in ihren Zügen nach den Schatten ihrer verlorenen Kinder.
    Hätten sie das auch getan, wenn sie hässlich gewesen wäre?
    Grace versagte sich weitere Spekulationen. Doch wie ein etwas zu ehrlicher Kunstkritiker einmal zu ihr gesagt hatte: »Wir interessieren uns kaum für Bilder ohne ästhetische Ausstrahlung – warum also sollte das bei Menschen anders sein?«
    Schon vor dem Massaker von Boston hatte Grace Kunstmalerin
werden wollen. Damals allerdings hatte ihr etwas gefehlt, etwas, das nur schwer zu definieren gewesen war. Erst durch die schicksalhafte Erfahrung hatte ihr künstlerisches Empfinden eine andere Dimension erreicht. Sie wusste natürlich, wie arrogant das klingen musste. Sie hatte Floskeln wie Du musst für deine Kunst leiden – Erst Tragödien verleihen künstlerischer Arbeit Struktur und Charakter stets abgelehnt. Doch was ihr zuvor als hohles Geschwätz erschienen war, hatte mittlerweile eine gewisse Überzeugungskraft gewonnen.
    Ohne auf die Schonungslosigkeit zu verzichten, die von jeher typisch für ihre Arbeiten gewesen war, gewannen sie eine nie da gewesene Lebendigkeit des Ausdrucks. Ihre Bilder waren jetzt düsterer, voller aggressiver Energie. Die Betrachter fragten sich nicht selten, ob sie Szenen aus jener unheilvollen Nacht malte. Als Antwort konnte lediglich ein Portrait dienen – das Bild eines jungen Gesichts, das so voller Hoffnung und gleichzeitig von tiefer Enttäuschung überschattet schien. Die bittere Tatsache war, dass das Massaker von Boston alles überschattete, was sie tat und lebte.
    Grace sah auf Jacks Schreibtisch hinunter. Das Telefon stand zu ihrer Rechten. Sie griff danach, beschloss, das Naheliegendste zuerst zu tun: Die Wahlwiederholungstaste von Jacks Telefon zu drücken.
    Der Telefonapparat, ein neues Modell von Panasonic, das sie in einem Radio-Shack-Store erworben hatte, verfügte über ein LCD-Display, das die jeweils letzte gewählte Nummer anzeigte. Die Vorwahl dieser Nummer lautete 212. Das war die Vorwahl für New York City. Sie wartete. Nach dem dritten Klingelton meldete sich eine Frauenstimme: »Anwaltskanzlei Burton und Crimstein.«
    Grace wusste im ersten Moment nicht, wie sie reagieren sollte.
    »Hallo?«
    »Hier spricht Grace Lawson.«
    »Mit wem darf ich Sie verbinden?«

    Gute Frage. »Wie viele Anwälte arbeiten in dieser Kanzlei?«
    »Schwer zu sagen. Soll ich Sie mit einem unserer Anwälte verbinden?«
    »Ja, bitte.«
    Am anderen Ende entstand eine Pause. Jetzt hatte die Stimme etwas Bemühtes. »Haben Sie jemand Bestimmten im Sinn?«
    Grace starrte wieder auf die Nummer auf dem Display. Es waren einfach zu viele Zahlen. Normalerweise kam man bei Ferngesprächen auf elf Zahlen. Die vorliegende Kombination bestand aus fünfzehn, einschließlich eines Sternchens. Sie überlegte. Wenn Jack diese Nummer angerufen hatte, dann musste es noch spät am Vorabend gewesen sein. Zu diesem Zeitpunkt waren Telefonzentralen nicht mehr besetzt. Jack hatte also

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