Kein böser Traum
pensionierter Dekan hat sie einwandfrei wieder erkannt. Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, aber sie bleibt unauffindbar. In den vergangenen zehn Jahren ist keine Spur von Sheila Lambert zu entdecken. Es ist, als habe sie niemals existiert. Keine Einkommenssteuerakte, keine Sozialversicherungsnummer, nichts.«
»Ähnlich wie bei Shane Alworth.«
»Exakt wie bei Shane.«
Grace überlegte. »Fünf Personen sind auf dem Foto. Die eine, Ihre Schwester, wird ermordet. Von zwei anderen, Shane Alworth und Sheila Lambert, fehlt seit Jahren jede Spur. Der vierte, mein Mann, flieht nach Europa und gilt seit zwei Tagen als vermisst. Und die fünfte im Bunde, also von der kennen wir nicht mal den Namen.«
Duncan nickte.
»Und was machen wir jetzt?«
»Ich habe doch mit Shane Alworth’ Mutter gesprochen. Erinnern Sie sich?«
»Die Dame mit den wirren Geographiekenntnissen?«
»Als ich sie das erste Mal besucht habe, hatte ich keine Ahnung von diesem Foto oder ihrem Mann oder allem anderen. Ich
möchte ihr das Bild zeigen. Bin auf ihre Reaktion gespannt. Und Sie sollten dabei sein.«
»Warum?«
»Nur so ein Gefühl. Mehr nicht. Evelyn Alworth ist eine alte Frau. Sie ist gefühlsbetont und sie hat Angst. Beim ersten Mal bin ich als Ermittler der Staatsanwaltschaft bei ihr gewesen. Ich weiß nicht, vielleicht … wenn Sie mich als besorgte Ehefrau und Mutter begleiten … vielleicht ist sie dann zugänglicher.«
Grace zögerte. »Wo wohnt sie?«
»In einer Eigentumswohnung in Bedminster. Die Fahrt dauert knapp dreißig Minuten.«
Cram zeigte sich wieder. Scott Duncan nickte in seine Richtung.
»Sagen Sie, was macht dieser gruselige Kerl eigentlich bei Ihnen?« , fragte Duncan.
»Ich kann jetzt nicht mitfahren.«
»Warum nicht?«
»Ich habe Kinder. Ich kann sie hier nicht allein lassen.«
»Dann nehmen Sie die Kinder eben mit. Direkt gegenüber dem Haus ist ein Spielplatz. Dauert ja nicht lange.«
Cram stand plötzlich in der Tür. Er winkte Grace zu sich. »Entschuldigen Sie«, murmelte sie und lief zu Cram. Scott Duncan blieb zurück.
»Was ist los?«, fragte Grace.
»Emma. Sie ist oben und weint.«
Grace fand ihre Tochter in der klassischen Haltung der Verzweifelten – das Gesicht im Laken vergraben auf dem Bett, das Kissen über dem Kopf. Ihr Schluchzen war nur gedämpft zu hören. Es war lange her, seit Emma so geweint hatte. Grace setzte sich auf die Bettkante. Sie wusste, was kommen würde. Als Emma wieder sprechen konnte, fragte sie nach ihrem Daddy. Grace antwortete, er sei auf Geschäftsreise. Emma sagte, sie glaube ihr nicht. Emma wollte die Wahrheit wissen. Grace wiederholte,
Jack wäre nur geschäftlich unterwegs. Alles wäre in bester Ordnung. Emma ließ nicht locker. Sie wollte wissen, wo Daddy wäre, warum er nicht angerufen hätte, wann er nach Hause käme. Grace erfand Erklärungen, die in ihren Ohren ziemlich plausibel klangen – Jack wäre in London, wüsste nicht, wie lange er dort bleiben müsse. Er hätte angerufen, als Emma geschlafen hatte. London liege in einer anderen Zeitzone.
Sie wusste nicht, ob Emma ihr das abnahm.
Grace gehörte nicht zu den Eltern, die alles mit ihren Kindern besprachen. Die oberste Aufgabe einer Mutter war es, ihre Kinder zu beschützen. Emma war nicht alt genug für die Wahrheit. So einfach war das.
Wenige Minuten später sagte sie Max und Emma, sie sollten sich anziehen, sie würden einen Ausflug machen. Beide Kinder packten ihre Gameboys und stiegen in den Fond des Wagens. Scott Duncan machte Anstalten, sich auf den Beifahrersitz zu setzen. Cram verstellte ihm den Weg.
»Wo liegt das Problem?«, fragte Duncan.
»Ich möchte mit Mrs. Lawson sprechen, bevor es losgeht. Bleiben Sie hier.«
Duncan ahmte einen militärischen Gruß nach. Cram warf ihm einen Blick zu, der hätte töten können. Er und Grace gingen ins Hinterzimmer. Cram schloss die Tür.
»Sie sollten nicht mit ihm fahren«, begann Cram.
»Vielleicht nicht. Aber ich muss es tun.«
Cram kaute auf der Unterlippe. Es gefiel ihm zwar nicht, doch er hatte Verständnis. »Haben Sie eine Handtasche dabei?«
»Ja.«
»Zeigen Sie mal her.«
Sie hob ihre Handtasche hoch. Cram zog eine Pistole aus dem Gürtel. Sie war klein, wirkte beinahe wie ein Spielzeug. »Das ist eine Glock 26, Kaliber 9 Millimeter.«
Grace hob abwehrend die Hände. »Nein, das will ich nicht.«
»Stecken Sie sie in die Handtasche. Man kann sie auch in einem Halfter am Fußgelenk tragen, aber dazu müssten Sie
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